Antibiotika: Fehler im System
Das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) veröffentlicht jährlich Zahlen, aus denen hervorgeht, welche Antibiotikamengen an deutsche Tierärzt:innen abgegeben werden. Darüber hinaus gibt es halbjährlich die bundesweiten Kennzahlen zur Therapiehäufigkeit für »Masttiere« bekannt. Beide Maßnahmen sollen dabei helfen, den Einsatz von Antibiotika in deutschen Ställen zu verringern und das Aufkommen antibiotikaresistenter Bakterien zu minimieren. Diese Keime können entlang der Lebensmittelkette zum Verbraucher gelangen und zu schwer behandelbaren Infektionen führen. Dem BVL zufolge sinkt die Zahl der abgegebenen Antibiotika von Jahr zu Jahr – doch kann man sich auf die Erhebungen wirklich verlassen?
Erhebungen zu den Antibiotika-Abgabemengen
Seit 2011 muss die Pharmaindustrie dem Bundesamt melden, wie viele Antibiotika sie jährlich an Tierärzt:innen abgibt. Die ersten Ergebnisse waren ein Schock: Demnach setzten die deutschen Tierärzt:innen insgesamt 1.706 Tonnen Antibiotika ein – fast doppelt so viel wie vermutet. Seitdem sinken die Abgabemengen jedoch: Im Jahr 2014 waren es 1.238 Tonnen, 2017 nur noch 733 Tonnen Antibiotika.
Beim genaueren Hinsehen zeigen sich allerdings mehrere Problemfelder: Zunächst ist auf die absolute Gesamtmenge als Orientierungsgröße wenig Verlass, denn beim Antibiotika-Einsatz ist vor allem die Wirksamkeit entscheidend. Besonders ältere Wirkstoffe wie das häufig eingesetzte Penicillin benötigen pro Behandlung eine höhere Wirkstoffmenge als beispielsweise Antibiotika aus der Wirkstoffklasse der Chinolone. Indem wirksamere Antibiotika eingesetzt werden, sinkt die Gesamtmenge.
Anreiz zur Verwendung von hochwirksamen Antibiotika
Das Verfahren, die Gesamtmenge zu erheben, setzt somit für die »Veredelungswirtschaft« einen falschen Anreiz: Die Gesamtmenge kann reduziert werden, indem an der gängigen Praxis nichts geändert wird, außer einfach vermehrt hochwirksame Antibiotika zu verwenden.
Dass genau dies auch geschieht, belegen die Zahlen der letzten Jahre: Der Einsatz von Penicillinen sinkt von Jahr zu Jahr. Im Gegensatz dazu werden Antibiotika aus der Gruppe der Chinolone vermehrt eingesetzt.
Weiterhin ist die Menge der in der Tiermedizin eingesetzten Reserveantibiotika nach wie vor kritisch zu sehen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die Weltorganisation für Tiergesundheit (OIE) stufen diese Antibiotika als besonders wichtig für die Therapie beim Menschen ein. Ein Beispiel dafür sind Reserveantibiotika aus der Gruppe der Cephalosporine. Bei ihnen ist laut BVL kein Rückgang in der Abgabemenge zu verzeichnen – das Niveau wurde lediglich gehalten. Der Verbrauch von Reserveantibiotika aus der Gruppe der Fluorchinolone stieg im Vergleich zur ersten Erhebung sogar um 50 % an.
Der zunehmende Einsatz von Reserveantibiotika schwächt ihre Wirkung als letzte Rettung zur Behandlung von lebensbedrohlichen Infektionen. So stellte Mike Catchpole, leitender Wissenschaftler beim Europäischen Zentrum für Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC), 2015 im Zusammenhang mit den hohen Resistenzen gegenüber Fluorchinolonen fest: »Derart hohe Resistenzgrade reduzieren die Optionen zur wirksamen Behandlung schwerer […] Infektionen beim Menschen«.
Keine Meldepflicht, keine Angaben
Die offiziellen Auswertungen der Abgabemengen erwecken den Anschein der Vollständigkeit. Dieser Schein trügt jedoch, denn für einige antibiotikahaltige Arzneimittel herrscht keine Meldepflicht. Dazu gehören u. a. ins Ausland verkaufte Antibiotika und antibiotikahaltige Arzneimittelvormischungen, die dem Tierfutter hinzugefügt werden können. Diese Vormischungen können bis zu zwei antibiotisch wirksame Substanzen enthalten und werden auch verwendet, um bei einer Infektion im Bestand die noch nicht erkrankten Tiere zu behandeln. Besonders heikel ist dabei, dass gerade die Behandlung von gesunden Tieren mit Antibiotika die Entstehung resistenter Bakterien begünstigen kann.
Schlussendlich werden vier Antibiotika-Wirkstoffklassen ohne konkrete Angaben zur Abgabemenge in der aktuellen Liste aufgeführt. Die entsprechenden Daten dürfen laut BVL nicht veröffentlicht werden, da nur ein pharmazeutischer Betrieb die Zulassungsrechte für die jeweiligen Tierarzneimittel hat. So sollen Geschäfts- und Betriebsgeheimnisse gewahrt werden. In den vergangenen Jahren vermerkte das Bundesamt wenigstens noch, dass von den betroffenen Antibiotika weniger als eine Tonne an die Tierärzt:innen abgegeben wurde. Die früheren groben Angaben und das aktuelle Fehlen von Daten im aktuellen Bericht machen einen Vergleich oder das Erkennen einer auf- oder absteigenden Abgabetendenz jetzt aber unmöglich.
Antibiotika-Therapiehäufigkeit
2014 wurde mit der 16. Arzneimittelgesetz-Novelle das System der Antibiotika-Therapiehäufigkeiten bei »Masttieren« implementiert. Es soll gewährleisten, dass Antibiotika nur eingesetzt werden, wenn sie wirklich erforderlich sind. Dafür müssen Tiermäster:innen ihren betrieblichen Antibiotikaeinsatz an die zuständige Überwachungsbehörde melden. Das BVL berechnet dann einen individuellen Therapiehäufigkeitsindex, der mit den halbjährlichen Kennzahlen (Bundesdurchschnitt) verglichen wird. Bei Wertüberschreitungen müssen die Mäster:innen gemeinsam mit dem oder der betreuenden TierärztIn Maßnahmen ergreifen, um den Antibiotika-Einsatz zu senken. Anstatt feste Grenzwerte zu nutzen, soll so der Antibiotika-Einsatz in Deutschland kontinuierlich gesenkt werden. Diese Maßnahme gilt allerdings nicht für jeden tierhaltenden Betrieb in Deutschland.
Nicht alle Tiere werden beachtet
Der Therapiehäufigkeitsindex bezieht sich nur auf bestimmte »Masttiere«. Der Schwerpunkt liegt bei Rindern, Schweinen, Hühnern und Puten in bestimmten Lebensphasen. Während bei Vögeln bereits ab Schlupf Antibiotikagaben zu vermerken sind, werden Behandlungen von Rindern und Schweinen erst ab der Trennung vom Muttertier in der Erhebung berücksichtigt. Elterntiere in der Geflügelproduktion sowie Tiere, die zur Erzeugung von Milch und Eiern genutzt werden, finden keinerlei Beachtung.
Außerdem sind Betriebe mit kleineren Tierbeständen von der Meldepflicht ausgenommen. Halter:innen mit weniger als 250 Ferkeln oder 10.000 »Masthühnern« müssen keine Angaben machen – und das, obwohl auch im kleinen Rahmen eine inadäquate Gabe von Antibiotika durchaus möglich ist. Andere in der Mast übliche Tiere wie Kaninchen, Fische in Aquakulturen, Enten, Ziegen oder Schafe lässt man bei der Erhebung sogar gänzlich außer Acht. Da aber jeder Einsatz von Antibiotika zur Resistenzentwicklung beitragen kann, müssten unserer Ansicht nach auch diese Betriebe beachtet werden.
Anreiz zur Verwendung von Reserveantibiotika
Um bei der Therapiehäufigkeit unter dem Bundesdurchschnitt zu bleiben und keine aufwendigen Maßnahmen zur Senkung des Antibiotika-Gebrauchs treffen zu müssen, setzt das derzeitige System auch auf individueller Ebene einen Anreiz zum Einsatz von Reserveantibiotika: Diese Arzneimittel wirken oftmals länger, wodurch sie weniger häufig eingesetzt werden müssen.
Dass auch dies in der Praxis stattfindet, lässt sich an den Angaben des BVL ablesen: Tierärzt:innen werden vermehrt dazu aufgefordert, potentere Antibiotika bevorzugt einzusetzen. Die Mäster:innen fordern Reserveantibiotika aus Angst vor einem Überschreiten der Kennwerte, treiben damit aber auch die Ausbildung von besonders gefährlichen Resistenzen voran.
Fazit
Die beiden hier besprochenen staatlichen Maßnahmen zur Senkung des Antibiotikaverbrauchs sind gerade im Hinblick auf die bestehende Resistenzproblematik unzureichend. Bei differenzierter Betrachtung wird ersichtlich, dass die oberflächliche Aussage der gesunkenen Antibiotikamengen irreführend ist. Besonders zu kritisieren sind folgende Punkte:
- Die Gesamtmenge des Antibiotikaverbrauchs zu messen, ist irreführend und setzt auf der Ebene der Industrie Anreize, mehr hochwirksame Antibiotika wie Reserveantibiotika zu verwenden.
- Die Therapiehäufigkeit zu messen, setzt auf individueller Ebene den Anreiz, mehr Reserveantibiotika zu verwenden, da diese länger wirken.
- Manche Antibiotikagaben werden gar nicht erfasst.
Diese Punkte zeigen, wie dringend das aktuelle System des Antibiotika-Monitorings überarbeitet werden muss. Unabhängig vom Monitoring: Letztlich ist der hohe Antibiotika-Einsatz in der industriellen Tierhaltung unausweichlich und muss herhalten, um betriebliche, personelle und systembedingte Mängel wie hohe Besatzdichten und den Einsatz von auf Gewichtszunahme optimierten Zuchtlinien auszugleichen.
Es gibt bereits bestehende Empfehlungen zum Umgang mit Antibiotika, wie die von der Bundestierärztekammer formulierten Leitlinien für den Antibiotika-Einsatz. Besonders der darin enthaltene Hinweis auf einen restriktiven Einsatz von Reserveantibiotika und die Durchführung von Resistenztests müssen strenger umgesetzt werden. Dass eine Senkung des Tierbestands, zusammen mit verbesserten Haltungsbedingungen, zu deutlich weniger Behandlungen mit Antibiotika führen würde, muss unbedingt zu einem zentralen Punkt in der Diskussion um einen sinkenden Antibiotika-Einsatz werden.