Tierindustrie erschwert Ernährungssicherheit
Der Krieg Russlands gegen die Ukraine bedroht die Leben von Millionen Menschen und Tieren. Darüber hinaus erschüttert er den globalen Handel – und damit die globale Lebensmittelversorgung, denn beide Länder sind wichtige Exporteure. Weltweit steigt daher die Angst vor Versorgungsengpässen.
Hierzulande fordern nun insbesondere Bauernverband und FDP, Nachhaltigkeit in der Landwirtschaft hinten anzustellen und Reformen wie die Farm-to-Fork-Strategie zu stoppen, um die landwirtschaftliche Produktion zu steigern. Einige EU-Länder wollen ihre Landwirtschaftspolitik entsprechend anpassen.
Die Produktion zu steigern, womöglich ohne Rücksicht auf Kollateralschäden, ist jedoch speziell in Deutschland und Europa weder nötig noch sinnvoll. Im Gegenteil: Um weltweit die Ernährung auch zukünftiger Generationen sicherzustellen, ist eine nachhaltige Landwirtschaft unverzichtbar. Es ist die ressourcenintensive Tierindustrie, die auf den Prüfstand gehört.
Führt der Krieg in der Ukraine zu Hungersnot?
Wichtige Exportgüter aus der Ukraine und Russland sind Getreide wie Weizen, Gerste, Mais und Raps sowie Sonnenblumenöl und Sonnenblumenkuchen, ein Nebenprodukt der Ölherstellung, das als Futter in der Tierindustrie verwendet wird. Die weltweite Landwirtschaft ist außerdem auf Mineraldünger aus Russland und dem verbündeten Belarus angewiesen. Da Europa zudem rund ein Drittel der fossilen Energie aus Russland bezieht, werden große wirtschaftliche Einschnitte erwartet, sollten die Energielieferungen stoppen. Das träfe auch die Lebensmittelproduktion.
Die Exporte aus der Ukraine sind infolge des Kriegszustands und von Blockaden bereits drastisch eingebrochen. Der Angreifer Russland wird dazu zunehmend wirtschaftlich isoliert. Weil erste Engpässe zu spüren sind, aber auch weil Länder genauso wie Privatpersonen beginnen, aus Angst Waren zurückhalten oder zu hamstern, steigen die Preise für Lebensmittel, Energie und Dünger. Hinzu kommt, dass durch die Corona-Pandemie entstandene wirtschaftliche Einschränkungen noch nicht wieder ganz verschwunden waren.
Trotzdem: In einer Mitteilung versicherte die EU-Kommission, dass »Die Versorgung mit Nahrungsmitteln [...] in der EU heute nicht auf dem Spiel« steht. Die EU sei bei den wichtigsten Agrarerzeugnissen »weitgehend autark«. Eine echte Bedrohung sind jedoch die steigenden Preise für ärmere Menschen innerhalb der EU sowie Menschen in ärmeren Ländern. Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) warnt vor diesem Hintergrund vor Hungersnöten in Ländern, die auf Importe von ukrainischem Getreide angewiesen sind.
Die Krise verdeutlicht die Fehler im System
Das Bittere daran: Im Grunde wird weltweit ausreichend Nahrung produziert, um alle Menschen satt zu bekommen. Sie wird allerdings ungleich verteilt – und an Tiere verfüttert. Rund ein Drittel der globalen Getreideernte landet im Futtertrog. In Deutschland sind es sogar fast 60 % – rund 25 Millionen Tonnen Getreide. EU-weit werden sogar mehr als 160 Millionen Tonnen Getreide zu Tierfutter. Eine Verschwendung wertvoller Nährstoffe, gerade in Krisenzeiten. Die Ukraine exportiert im Vergleich dazu etwa 67 Mio. Tonnen Getreide pro Jahr.
Am Beispiel Deutschland zeigt sich auch, dass es die eigene Versorgungssicherheit gefährdet, wenn sich ein Land vor allem auf die Produktion ressourcenintensiver Tierprodukte für den Export konzentriert: Abgesehen von Kartoffeln und Zucker liegt der Selbstversorgungsgrad hierzulande vor allem bei Schweinefleisch, Tiermilch und Käse über 100 %. Auch bei Weichweizen (2020: 132 %) und Gerste (2020: 116 %) ist das der Fall, wobei Gerste vor allem als Tierfutter genutzt wird. Bei Roggen (2020: 92 %), Hartweizen (2020: 12 %) und Hafer (2020: 68 %) sowie bei Gemüse, Hülsenfrüchten und Obst ist Deutschland dagegen auf Zukäufe angewiesen. Bei Gemüse lag der Selbstversorgungsgrad im Jahr 2020 bei 37 % und bei Obst bei gerade einmal 20 %. Ohne die anderen EU-Länder müsste sich Deutschland also wirklich Gedanken um seine Versorgungssicherheit machen.
Weil hierzulande so viele Tiere gehalten werden, ist die deutsche Tierindustrie auf Importe angewiesen. Das Futter für deutsche »Nutztiere« stammt, auf den Eiweißgehalt gerechnet, zu 28 % aus anderen Ländern. Fast die Hälfte davon ist Soja, das Deutschland fast ausschließlich zu diesem Zweck importiert. So belegt die deutsche Tierindustrie auch noch Äcker in anderen Teilen der Welt. Die Überproduktion von Tierprodukten bindet dabei nicht nur wertvolle Ressourcen. Sie drückt auch die Preise. Weil sich die meisten Agrarprodukte nur zu Weltmarktpreisen verkaufen lassen, haben die Erzeuger:innen kaum Möglichkeiten, in Nachhaltigkeit und bessere Haltungsbedingungen zu investieren.
Würde die Massentierhaltung abgebaut werden, würde das Ressourcen freisetzen, um mehr Menschen sicher mit Lebensmitteln zu versorgen. Diese könnten zudem klima- und umweltschonender produziert werden und damit die Versorgung auch in Zukunft sicherstellen. Denn die Klimaerhitzung oder der fortschreitende Verlust der Biodiversität sind nach wie vor existenzbedrohende Probleme.
Jetzt erst recht nachhaltig
Die Agrarlobby versucht stattdessen, eine Krise gegen die andere auszuspielen und fordert, ausgerechnet bei Klima- und Artenschutz den Rotstift anzusetzen. Sie beklagt, dass die Farm-to-Fork-Strategie vorsieht, 4 % der landwirtschaftlichen Flächen zugunsten der Natur brachliegen zu lassen, den Anteil der Bio-Landwirtschaft zu steigern sowie den Pestizid- und Düngereinsatz zu reduzieren. Das führe angeblich zu relevanten Produktionseinbußen, was man sich angesichts einer vermeintlich drohenden Nahrungskrise nicht leisten könne.
Die Heinrich-Böll-Stiftung hat jedoch in einer Studie vorgerechnet, dass die 4 % Brachflächen keinen großen Einfluss auf die Lebensmittelproduktion in Europa haben. Die Tierhaltung belegt hingegen viel mehr Flächen (mehr als 80 % der landwirtschaftlichen Flächen), liefert aber nur einen relativ geringen Teil der Nährstoffe (18 % aller Kalorien und 37 % aller Proteine) und bietet daher auch ein viel größeres Einsparpotenzial. Weniger Tierhaltung würde zudem bedeuten, dass die Landwirtschaft weniger umweltschädliche Pestizide und Düngemittel braucht, weil sie insgesamt weniger anbauen muss (da nicht mehr so viel Tierfutter benötigt wird). Trotzdem wäre ausreichend Nahrung vorhanden, um nicht nur die eigene Bevölkerung zu ernähren, sondern auch Menschen in ärmeren Ländern zu helfen.
Die Nahrungskrise zu bekämpfen, indem man Klimakrise, Biodiversitätsverlust oder Bodendegradation ignoriert, ist der falsche Ansatz. Schließlich drohen auch durch Klima- und Umweltkatastrophen Versorgungsengpässe. Wissenschaftler:innen fordern daher, die ressourcenintensive Tierindustrie zu schrumpfen und an der Nachhaltigkeitsstrategie der EU festzuhalten.
Und was macht die Bundesregierung?
Auch Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir hat das Problem offensichtlich erkannt: »Wenn wir jetzt vom Recht auf Nahrung sprechen, dann sollten wir nicht die Axt an Klima- und Naturschutz legen, sondern gemeinsam dafür sorgen, dass die Agrarproduktion nicht mehr vorrangig im Futtertrog landet, sondern Menschen direkt versorgt.«
Ein erstes Maßnahmenpaket des Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) zielt jedoch ausgerechnet darauf ab, die Produktion von Futtermitteln zu erleichtern. Das BMEL will unter anderem Brachen und Äcker, die sich eigentlich regenerieren sollen, 2022 ausnahmsweise für den Futteranbau freigeben (immerhin ohne Pestizideinsatz) – insgesamt ca. 1,23 Mio. ha. Allerdings geht es dabei um den Ökolandbau, der nach Angaben des BMEL besonders von Futterlieferungen aus der Ukraine abhängig ist.
Cem Özdemir betonte dennoch in Interviews mehrfach, die Tierbestände in Deutschland reduzieren zu wollen und an der Farm-to-Fork-Strategie festzuhalten. Er scheint erkannt zu haben, dass die aktuelle Krise auch eine Chance für die Agrarwende sein kann, wenn man es clever anstellt: Özdemir möchte den Anbau von Eiweißpflanzen mehr fördern. Zum Einen als Futtermittel – zum Anderen jedoch auch, um pflanzliche Proteine für Menschen zu erzeugen.
Die Welt müsste sich jedenfalls weniger Sorgen um Ernährungssicherheit machen, wenn sie ihr Wirtschaften an den Prinzipien der Nachhaltigkeit ausgerichtet hätte. Aber noch ist es für eine echte Agrarwende, weg von der Massentierhaltung, nicht zu spät. Wir werden uns weiter dafür stark machen.