Streit um Antibiotika-Verbot für Tiere
Eine Kampagne des Bundesverbands praktizierender Tierärzte (BPT) macht derzeit vielen privaten Tierhalter:innen Angst, dass ihr Hund, ihre Katze oder ihr Kaninchen zukünftig nicht mehr mit bestimmten Antibiotika behandelt werden könne. Ein Vorschlag des EU-Umweltausschusses mit dem Ziel, den Antibiotikamissbrauch in der Massentierhaltung einzudämmen, könne auch zum Problem für »Haustiere« werden, so der BPT.
Die Thematik ist natürlich komplexer und einige Verbände kritisieren den BPT für seine Kampagne scharf. Wir möchten für Sie die wichtigsten Aspekte der Diskussion kurz beleuchten.
Hintergrund: die neue EU-Tierarzneimittelverordnung
Der massenhafte, routinemäßige Einsatz von Antibiotika in der Massentierhaltung fördert die Entstehung antibiotikaresistenter Keime. Indem sogenannte Reserveantibiotika ausschließlich Menschen vorbehalten bleiben, soll die Wahrscheinlichkeit von Resistenzen gegen diese Wirkstoffe verringert werden.
Die EU hat zu diesem Zweck bereits 2019 eine neue EU-Tierarzneimittelverordnung verabschiedet. Diese wird im Januar 2022 in Kraft treten. Zuvor muss allerdings noch geklärt werden, welche Wirkstoffe zu Reserveantibiotika werden sollen und nach welchen Kriterien sie auszuwählen sind.
Die EU-Kommission hat dazu im Juli 2021 einen Entwurf vorgelegt und darin drei Kriterien für Reserveantibiotika formuliert. Das dritte Kriterium sieht vor, dass ein Wirkstoff nicht als Reserveantibiotikum eingestuft wird, wenn er eine essenzielle Bedeutung für die Tiergesundheit hat.
Der Ausschuss des EU-Parlaments für Umweltfragen, öffentliche Gesundheit und Lebensmittelsicherheit lehnte den Kommissionsvorschlag deshalb ab und nahm stattdessen das Veto des Ausschussmitglieds Martin Häusling (Grüne) an.
Kriterien der EU-Kommission zu lasch?
Martin Häusling kritisiert, dass die Einstufung eines Wirkstoffs als Reserveantibiotikum nicht von dessen Bedeutung für die Tiermedizin abhängig sein dürfe. Zudem sei nicht ganz klar, ab wann ein Wirkstoff »essenziell« für die Tiergesundheit sei. So ergäben sich Schlupflöcher, um wichtige Antibiotika weiterhin in großen Mengen in der Massentierhaltung zu verwenden. Er befürchtet, dass der Vorschlag der Kommission einige der Antibiotika nicht erfassen würde, die die WHO zu den Antibiotika mit höchster Priorität für den Menschen zählt.
Auch als Nicht-Reserveantibiotika dürfen Antibiotika durch die EU-Tierarzneimittelverordnung nur eingeschränkt in der Massentierhaltung eingesetzt werden. Prophylaktische und Gruppenbehandlungen sind dort allerdings in einigen Fällen noch möglich.
Da die EU-Tierarzneimittelverordnung derzeit keinerlei Ausnahmen für die Behandlung von Tieren vorsieht, wenn ein Wirkstoff erst einmal als Reserveantibiotikum eingestuft ist, wäre dieser tatsächlich für die Tiermedizin gesperrt. Um trotzdem Ausnahmen für einzelne erkrankte Tiere zu ermöglichen, schlägt Martin Häusling vor, die Verordnung noch einmal zu ändern. Er ist überzeugt, dass dies möglich ist.
Verordnungsänderung unmöglich?
Der Bundesverband Praktizierender Tierärzte (BPT) meint nun jedoch: Die Ausnahmeregelung in der Verordnung, die Häuslings Veto für einzelne Tiere vorsieht, sei eben nicht möglich. Das gefährde die Behandlung vieler Tiere. Die Kritik des BPT wird auch von anderen tierärztlichen Verbänden geteilt. Zudem unterstützt der Deutsche Tierschutzbund die Kampagne.
Germanwatch e. V. und die Deutsche Umwelthilfe e. V. werfen dem BPT allerdings eine Desinformationskampagne vor. Sie mache privaten Tierhalter:innen unnötig Angst und verschleiere die engen Kontakte der Veterinärmedizin zur Agrar- und Pharmabranche. Einige Tierarztpraxen nähmen bis zu 78 % ihres Umsatzes durch den Verkauf von Antibiotika ein, so die Verbände.
Die beiden Verbände haben sich zudem zusammen mit weiteren Organisationen in einem offenen Brief an die EU gewandt: Da Antibiotikagaben außerhalb der Massentierhaltung zu vernachlässigen sind, wenn es um die Entstehung von Resistenzen geht, wäre es unnötig gewesen, die Verbote in der Verordnung pauschal auf alle Tiere beziehen. Das müsse die Kommission rechtfertigen, beziehungsweise nachbessern. Diesen Makel versucht auch Martin Häusling mit der Verordnungsänderung zu beheben.
Beste Lösung ist schwer zu bestimmen
Erst kürzlich veröffentlichte die Welternährungsorganisation (FAO) einen Aufruf an alle Nationen, die Nutzung von Antibiotika in der Lebensmittelproduktion drastisch zu reduzieren. Es bestehe nach wie vor dringender Handlungsbedarf. Das Anliegen Martin Häuslings und des Umweltausschusses, wichtige Wirkstoffe streng zu schützen, finden wir daher nachvollziehbar.
In der Massentierhaltung sorgen Überzüchtung, hohe Besatzdichten und schlechte Haltungsbedingungen dafür, dass der Einsatz von Antibiotika Teil des Systems ist. Das fördert die Entstehung von Resistenzen. Antibiotikagaben drastisch einzuschränken, kann ein wichtiger Hebel sein, um dieses System zu beenden und für deutlich höhere Standards zu sorgen. Nachdem die Tierhaltung grundlegend umgebaut wurde, erscheint es uns sinnvoll, Tieren im Krankheitsfall Antibiotikagaben nicht zu verwehren – unabhängig davon, ob es sich um »Nutz-« oder um »Haustiere« handelt.
Ob die von Martin Häusling vorgeschlagene Änderung der Tierarzneimittelverordnung realistisch und der sinnvollste Weg ist, können wir aktuell nicht einschätzen. Ohne sie wären Reserveantibiotika jedoch definitiv für alle Tiere gesperrt – auch wenn die Liste nach dem aktuellen Vorschlag der Kommission wohl ziemlich kurz wäre.
Wie geht es weiter?
In einem aktuellen Hintergrundpapier weist Germanwatch darauf hin, dass auch das Veto von Martin Häusling nur ein Vorschlag sei. Sollte es angenommen werden, kann die Kommission einen neuen Entwurf für die Kriterien vorlegen, der die Vorschläge im Veto nicht eins zu eins umsetzen muss. Daher wird Mitte September, wenn das Europaparlament über den Kommissionsentwurf und das Veto abstimmt, noch keine endgültige Entscheidung gefällt und auch kein Antibiotikaverbot für die Tiermedizin beschlossen.
Wir appellieren an die Kommission, weder die menschliche Gesundheit durch schwammige Schutzkriterien für Reserveantibiotika, noch die Tiergesundheit durch zu kurz gedachte Anwendungsverbote zu gefährden. Damit wirksame Antibiotika für Mensch und Tier langfristig zur Verfügung stehen, ist die Abschaffung der Massentierhaltung ein notwendiger Schritt.
Nachtrag: Reserveantibiotika für Tiere bleiben erlaubt
Das Europaparlament hat, vor allem mit den Stimmen der EVP-Fraktion, Mitte September 2021 das Veto von Martin Häusling abgelehnt und stattdessen den Vorschlag der Kommission durchgewunken.
Die fertige Wirkstoff-Liste der EU-Kommission, die einer Empfehlung der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) folgt und seit Januar 2022 gilt, enthält keines der Antibiotika, die die WHO als für Menschen am allerwichtigsten einstuft und die nicht eh für den Einsatz bei Tieren gesperrt sind. Es ist das eingetreten, vor dem Martin Häusling gewarnt hat: Kritische Antibiotika können weiterhin in der Massentierhaltung eingesetzt werden.
In einer 2023 in Kraft getretenen Änderung des Tierarzneimittelgesetzes (TAMG) versucht Deutschland, dieses Schlupfloch auf nationaler Ebene zu stopfen: Für kritische Antibiotika, die nicht durch die EU für die Tierhaltung gesperrt sind, sowie für sogenannte One-Shot-Präparate legt das TAMG einen Gewichtungsfaktor fest (3 bzw. 5). Das heißt, diese Mittel zählen bei der verpflichtenden Erfassung der Therapiehäufigkeit mehr. Das könnte zumindest dafür sorgen, dass kritische Wirkstoffe weniger eingesetzt werden.