Welthunger und Entwicklungspolitik – eine Fleischfrage?
Laut der Welternährungsorganisation FAO leiden derzeit rund 870 Mio. Menschen an Hunger und Unterernährung. Um diesem altbekannten Missstand auch aus entwicklungspolitischer Sicht Rechnung zu tragen, wurde bereits im Jahr 2009 u. a. die Ernährungssicherung als ein Schwerpunkt der deutschen Entwicklungspolitik im Koalitionsvertrag der Bundesregierung festgehalten. Aktuell gemündet sind diese entwicklungspolitischen Bemühungen im Januar 2013 in einem »Zehn-Punkte-Programm zur ländlichen Entwicklung und Ernährungssicherung«, das für Bundesentwicklungsminister Dirk Niebel eine »klare Agenda gegen den weltweiten Hunger« darstellt. Gefahr erkannt, Gefahr gebannt? Wer sich das gegenwärtige Programm des Bundesministeriums für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit (BMZ) genauer anschaut, der wird schnell feststellen, dass auch heute noch, wie auch schon vor vier Jahren, ein äußerst relevanter Aspekt nicht berücksichtigt wird: der weit überhöhte Fleischkonsum der westlichen Industrienationen. Darf dieser Aspekt wirklich außen vor bleiben? Die folgenden Argumente sprechen dagegen.
Argument 1: Getreideproduktion
Wie aus dem zu Beginn des Jahres veröffentlichten Fleischatlas zusammenfassend hervorgeht, erreichte die globale Produktion von Fleisch im Jahr 2012 einen neuen Höchstwert von rund 300 Mio. Tonnen. Um eine solche Menge an Fleisch überhaupt produzieren zu können, werden inzwischen über 40 % der jährlichen Weltgetreideernte (rund 800 Mio. Tonnen) für die Tierfütterung eingesetzt. Hinzu kommen rund 250 Mio. Tonnen vornehmlich aus Soja hergestellte Ölschrote. Bedenklich an diesen Zahlen ist vor allem, dass die Produktion von Fleisch stets mit sogenannten Veredelungsverlusten einhergeht, da Tiere nur einen Bruchteil der ihnen zugeführten Kalorien und Nährstoffe in Fleisch und Tierprodukte wie Milch umwandeln. Der gesamte Rest wird für den Skelettaufbau, die Körperfunktionen usw. verwendet. Würde die an die zu Nahrungszwecken gezüchteten Tiere verfütterte Weltgetreidemenge direkt für den Menschen bereitgestellt werden, so könnten davon rein rechnerisch – im Fall der perfekten globalen Verteilung des Getreides – schätzungsweise drei Mrd. Menschen ernährt werden, unter Berücksichtigung wirtschaftlicher und politischer Spielregeln zumindest aber ein gewisser Teil dieser Menschen.
Argument 2: Land und Böden
Eine hohe Futtermittelproduktion geht zwangsläufig mit einem erhöhten Bedarf an Agrarfläche einher. So dient heute bereits etwa ein Drittel der weltweit nutzbaren 1,4 Mrd. ha Ackerfläche zum Anbau von Futtermitteln. Besonders bedenklich dabei: Da die Industrieländer ihren hohen Fleischkonsum nicht durch die eigene Futtermittelproduktion decken können, werden Flächen auch in Entwicklungsländern nachgefragt und in Anspruch genommen, die den dort lebenden Bevölkerungen sonst grundsätzlich für den eigenen Lebensmittelanbau zur Verfügung stünden. Allein schon Deutschland nimmt für seine Tierproduktion rund 3 Mio. Hektar Fläche in Lateinamerika zum Sojaanbau in Anspruch – und das, obwohl bereits hierzulande etwa die Hälfte der 12 Mio. Hektar Anbaufläche für die Futtermittelerzeugung verwendet wird.
Die Inanspruchnahme von fruchtbarem Land in Entwicklungsländern zum Unterhalt des Ernährungsluxus der Industriestaaten stellt unbestreitbar ein großes Problem dar. Daneben gibt aber vor allem auch die intensive Bewirtschaftung der Böden äußersten Grund zur Sorge: Bereits ein Drittel der globalen Ackerfläche ist degradiert – Tendenz steigend. Sollte die gegenwärtige Lebensmittelproduktion, eine der Hauptursachen der Bodendegradierung, nicht auf effektivere Produktionsmethoden und ressourcenschonendere Nahrungsmittelangebote umsteigen, sind eine fortschreitende Verschlechterung von Böden und, damit einhergehend, weitere Hungerkrisen zu befürchten.
Argument 3: Wasser
Wasser ist ein kostbares Gut, der Zugang zu Wasser ein anerkanntes Menschenrecht. Dass diesem Recht gerade in Bezug auf die Entwicklungsländer kaum Rechnung getragen wird, zeigt sich deutlich am gegenwärtigen Umgang mit dieser lebenswichtigen Ressource: Während jährlich etwa 3,5 Mio. Menschen an den Folgen schlechter Wasserversorgung sterben und rund 864 Mio. Menschen der Zugang zu sauberem Wasser fehlt, werden heute allein 70 % des weltweit verfügbaren Frischwassers in der Landwirtschaft verbraucht. Auch hier kann mit Blick auf die Tierproduktion von Verschwendung geredet werden: So werden zur Produktion von 1 kg Tierfleisch bis zu 15.400 Liter Wasser (Rindfleisch) verbraucht – 14.400 Liter Regenwasser (kommt beim Anbau vom hohen Futtermittelanteil zum Tragen, zählt nicht zum Frischwasser), 550 Liter potentiell trinkbares Wasser (z. B. zur zusätzlichen künstlichen Bewässerung der Futtermittelacker) sowie 450 Liter durch den Produktionsprozess verunreinigtes Frischwasser (z. B. durch Pestizide u. Insektizide beim Futtermittelanbau). Dass zur Produktion der gleichen Menge an Kartoffeln gerade einmal 257 Liter Wasser – davon nur 33 Liter potentiell trinkbares Wasser – benötigt werden, sollte verstärkt zu bedenken geben.
Argument 4: Subventionierung des Fleischkonsums
Damit Fleisch in den Industrienationen billig produziert, sein billiger Konsum und seine Überproduktion für den Weltmarkt gewährleistet werden kann, stellt allein schon die EU eine Reihe von Subventionszahlungen zur Verfügung: So werden etwa, wie der Fleischatlas berichtet, Investitionen in neue Megaställe mit bis zu 50 % gefördert und jährlich über 240 Mio. Euro direkt für die Fleisch verarbeitende Industrie sowie milliardenschwere EU-Beihilfen für Futtermittelflächen und die Bereitsstellung von Verkehrsinfrastruktur u. a. für den Futtermittelhandel bereitgestellt. Besonders bitter für außereuropäische, weitaus weniger gut gestellte Nationen: Neben der stark subventionierten Fleischproduktion und billigen Futtermittelimporten aus Entwicklungs- und Schwellenländern (für Soja wird im Gegensatz zu Getreide und Reis kein Einfuhrzoll erhoben) wird ebenfalls der Export von Fleisch subventioniert. Dadurch werden gerade in Entwicklungsländern oft die Märkte mit verbilligten europäischen Produkten überschwemmt und dabei kleinbäuerliche Strukturen zerstört sowie der Aufbau solcher Strukturen von vornherein verwehrt – und damit auch die Möglichkeit zu unabhängiger Selbsternährung.
Fehlende Konsumkritik = unvollständige Entwicklungspolitik
Die vorangegangenen Ausführungen mögen in Ansätzen das hohe Potential aufgezeigt haben, das für die globale Ernährungssicherung im Ernährungsverhalten vor allem der Industrienationen verborgen liegt. Soll Artikel 11 des »Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte« ernst genommen werden, in dem das menschliche Recht auf ausreichende Ernährung aufgehoben ist und von dem aus es sich argumentieren lässt, dass auch die politischen Entscheidungen der reichen Länder nicht zu verschärften Hungersituationen in ärmeren Ländern führen dürfen, dann wird der Handlungszwang der Industrieländer noch einmal umso deutlicher unterstrichen. Dass gerade auch Deutschland einem Handlungszwang unterliegt, sollte mit Blick auf den durchschnittlichen Verzehr von jährlich rund 61 kg Fleisch pro Kopf ebenso deutlich werden.
Weshalb sich das BMZ eine tiefgehende westliche Konsumkritik bisher nicht mit auf die Fahnen geschrieben hat, bleibt fraglich. Zwar werden – u. a. im aktuellen Zehn-Punkte-Programm – auch Aspekte wie die Abschaffung von EU-Agrarexportsubventionen sowie fairer und sicherer Zugang zu Land ins Feld geführt, die direkten Zusammenhänge und Auswirkungen des westlichen Konsumverhaltens auf diese Aspekte finden jedoch kaum ausreichend Beachtung. Dies ist umso erstaunlicher, als dass eine notwendige Reduzierung des Fleischkonsums innerhalb der Industrieländer in den vergangenen Jahren unüberhörbar laut diskutiert wurde und mittlerweile u. a. auch vom Umweltbundesamt (UBA) sowie vom Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB) nachdrücklich angeraten wird. Ist es auch bis zu einem gewissen Grad verständlich, dass bei der grundsätzlichen entwicklungspolitischen Arbeit zunächst einmal Maßnahmen zur Ernährungssicherung in den Blick genommen werden, die direkt in den Entwicklungsländern ergriffen werden sollten, so zeigt sich andererseits jedoch klar, dass eine westliche Entwicklungspolitik ohne selbstreflexive konsumkritische Impulse letztlich nur eine unvollständige sein kann.
Abschließend: die westliche Vorbildwirkung
Die Albert Schweitzer Stiftung für unsere Mitwelt möchte abschließend noch einen weiteren Punkt zu bedenken geben: Entgegen einer oft geäußerten Ansicht wird der Weg zu einer ernährungsgesicherten Welt kaum darin liegen können, die Entwicklungsländer beim Fleischkonsum auf das Niveau der Industrienationen heben zu wollen. Die gegenwärtige Vorbildwirkung letzterer ist allein schon aus Gründen der stetig wachsenden Weltbevölkerung und der ebenso stetig schwindenden Ressourcen wie Böden und sauberes Wasser verstärkt zu hinterfragen. Ein fundierter Weg zur Ernährungssicherung kann nur über das Umdenken der Industrienationen in der Fleischfrage führen, d. h. über ein massives Senken des Fleischkonsums. Nur hierin kann eine verantwortungsvolle Vorbildwirkung der Industrienationen begründet liegen und nur hierüber ein weiterer effektiver Faktor zur Ernährungssicherung geschaffen werden. Dass dabei im Endeffekt auch Milliarden von Tieren vor Leid und Tod bewahrt werden würden, zeigt erst recht die Bedeutung auf, die einem solchen Handlungsansatz im Sinne eines generellen, respektvollen Umgangs mit Leben zukommt.
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