Zweifelhafte Fleischstudie
In den vergangenen Tagen haben neue »Ernährungsrichtlinien«, die in der renommierten Zeitschrift »Annals of Internal Medicine« veröffentlicht wurden, für Aufsehen gesorgt. Die Autor:innen empfehlen darin, weiter so viel rotes und verarbeitetes Fleisch zu essen wie bisher. Sie begründen diese Empfehlung damit, dass es keine eindeutigen Belege für negative Auswirkungen auf die Gesundheit gebe.
Während die Empfehlungen durch die Schlagzeilen der internationalen Presse wanderten, kritisierten zahlreiche Ernährungsexpert:innen die Veröffentlichung mit Nachdruck. Wir fassen im Folgenden ihre Kritik und die Mängel der Richtlinien zusammen.
Wie und von wem wurden die Richtlinien erstellt?
Die Richtlinien wurden von »NutriRECS«, einer Gruppe internationaler Wissenschaftler:innen, erarbeitet. Sie veröffentlichten zeitgleich insgesamt sechs Publikationen in den »Annals of Internal Medicine«. Fünf davon sind sogenannte »Reviews« – wissenschaftliche Übersichtsarbeiten, die bereits vorhandene Studien zu einer Fragestellung sammeln und kritisch bewerten. Auf Grundlage der Ergebnisse dieser fünf Reviews entwickelten die Wissenschaftler:innen ihre Empfehlungen zum Fleischkonsum, die sie im sechsten Papier vorstellen: »[Wir empfehlen], dass Erwachsene den aktuellen Konsum von unverarbeitetem rotem Fleisch [und] von verarbeitetem Fleisch fortsetzen [...].«
Die Kritikpunkte
Zahlreiche Ernährungswissenschaftler:innen haben die Empfehlungen von NutriRECS analysiert und kritisiert. Die wesentlichen Kritikpunkte sind:
1. Unpassende Kriterien
NutriRECS empfiehlt, weiterhin Fleisch zu essen wie bisher, obwohl die Ergebnisse der ausgewerteten Studien darauf hindeuten, dass Fleischverzehr gesundheitsschädlich ist. Wie kann das sein?
Die Autor:innen der Reviews bewerteten die Studien zum Fleischverzehr mithilfe der sogenannten GRADE-Kriterien, die auf die strenge Bewertung klinischer Medikamentenstudien zugeschnitten sind. Mit dieser Herangehensweise konnten die Autor:innen allen ausgewerteten Studien eine geringe Aussagekraft bescheinigen. Das Problem an diesem Ansatz: Es ergibt keinen Sinn, Langzeitstudien, die sich mit Ernährungsfragen beschäftigen, anhand solch strenger Kriterien zu bewerten. Diese Studien beruhen auf Daten, die nicht unbedingt unter Laborbedingungen oder in kontrollierten Experimenten entstanden sind, sondern durch Langzeitbeobachtungen und -befragungen. Das liegt daran, dass man etwa aus praktischen und ethischen Gründen nicht unter strengen Laborbedingungen testen kann, wie sich beispielsweise die Ernährung langfristig auf Menschen auswirkt.
Würde man ein ähnlich rigoroses Verfahren anwenden, um die Aussagekraft von Studien zu bewerten, die untersuchen, ob viele zuckerhaltige Getränke oder Passivrauchen gesundheitsschädlich sind, gäbe es auch zu diesen Themen keine stichhaltigen Beweise, heißt es in einem Artikel der Harvard School of Public Health.
2. Der federführende Autor hat Verbindungen zur Lebensmittelindustrie
Der leitende Autor der neuen Empfehlungen, Bradley C. Johnston, hat nicht zum ersten Mal die strengen GRADE-Kriterien zur Bewertung von Ernährungsstudien angewendet. 2016 verantwortete er eine ähnliche Veröffentlichung, die ebenfalls in den »Annals of Internal Medicine« erschien. Ihr Tenor: Zucker sei nicht so schädlich wie internationale Ernährungsorganisationen behaupten.
Die Zucker-Studie war vom International Life Sciences Institute (ILSI) bezahlt worden – einer US-amerikanischen Lobbyorganisation, zu deren Mitgliedern u. a. Pepsi, Coca Cola und Cargill (einer der größten Rindfleischproduzenten der USA) gehören. Johnston hat es nicht als notwendig erachtet, seine vergangenen und seiner Aussage nach mittlerweile beendeten Verbindungen zum ILSI im Rahmen der aktuellen Veröffentlichung zu Protokoll zu geben. Sie hätten keinen Einfluss auf seine aktuelle Arbeit zum Fleischkonsum gehabt. Trotzdem lässt sich eine fragwürdige Tendenz erkennen, die darauf hindeutet, »dass Johnston eine Karriere damit macht, die gängige Ernährungslehre zu untergraben«, sagt Marion Nestle, Professorin für Ernährungswissenschaft an der New York University.
3. Involvierte Wissenschaftler:innen äußern Kritik
Insgesamt gehörten dem NutriRECS-Gremium 14 Personen an. Drei der 14 Personen haben vor der Veröffentlichung gegen die Empfehlungen gestimmt. Auch andere involvierte Personen äußerten Kritik. Dr. John Sievenpiper, Co-Autor einer der Übersichtsstudien, forderte die »Annals« sogar dazu auf, die Veröffentlichung zu stoppen: »Unsere Analyse der Ernährungsformen, die wenig rotes und verarbeitetes Fleisch enthalten, zeigte, dass sie [...] die kardiovaskuläre Sterblichkeit und die Krebssterblichkeit reduzieren. Trotz dieser Feststellung lautete die Empfehlung des Richtlinienpapiers [...], dass Erwachsene weiterhin rotes und verarbeitetes Fleisch verzehren sollen. Ich lehne diese Empfehlung entschieden ab und bin besorgt über die nachhaltigen Schäden für die öffentliche [...] Gesundheit.«
4. Die Empfehlungen basieren teilweise auf den persönlichen Einstellungen von Menschen zum Fleischkonsum
Eine der in den »Annals« publizierten Reviews von NutriRECS untersucht »gesundheitsbezogene Werte und Präferenzen beim Fleischkonsum«. Die Empfehlung, weiterhin so viel Fleisch zu essen wie bisher, fußt folglich zum Teil auf der Annahme, dass Menschen gerne Fleisch essen und ihr Verhalten nicht ändern werden, auch wenn es zu Krebs oder Herzkrankheiten führen kann. »Obwohl Fleischersatzprodukte in den letzten Jahren immer beliebter werden, gehen die Autor:innen davon aus, dass die kulturelle Bindung an Fleisch zu groß ist, um von gesundheitsfördernden Empfehlungen beeinflusst zu werden«, schreibt Dr. Neil Barnard, außerordentlicher Professor der Medizin an der Universität Washington. Er nennt dies den vielleicht heikelsten Aspekt der Empfehlungen.
5. Schlüsselstudien wurden nicht berücksichtigt und Umwelt- sowie Tierschutzaspekte ausgespart
Das Physicians Committee for Responsible Medicine kritisiert, dass zahlreiche wichtige Schlüsselstudien nicht berücksichtigt wurden. Auch sparten die NutriRECS-Wissenschaftler:innen bei ihren Empfehlungen Tierschutz- und Umweltaspekte bewusst aus. Das ist bemerkenswert und fahrlässig, denn die Fleischproduktion bedeutet nicht nur Leiden und Tod für unzählige Tiere, sondern ist auch einer der bedeutendsten Mitverursacher des menschgemachten Klimawandels.
Fazit
Dieser Fall unterstreicht einmal mehr, wie wichtig es ist, sich nicht blind auf aufsehenerregende Schlagzeilen zu verlassen: Die zahlreichen Analysen von Ernährungswissenschaftler:innen zeigen, dass die Aussagen von NutriRECS in hohem Maße fragwürdig sind. Die Empfehlung, weiterhin Fleisch zu essen wie gewohnt, ist kontraproduktiv und widerspricht den Empfehlungen aller nationalen und internationalen Ernährungsinstitutionen.
Es steht fest, dass die Ernährung kausal mit dem Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Typ-2-Diabetes und weiteren Erkrankungen zusammenhängt, schreibt das Max Rubner-Institut. Verarbeitetes Fleisch wurde 2015 von der Weltgesundheitsorganisation WHO als krebserregend eingestuft – und zwar auf der Grundlage von eindeutigen und überzeugenden wissenschaftlichen Belegen.
Das Umweltministerium gibt an, dass die Produktion von einem Kilo Rindfleisch fast 90 Mal so viele Treibhausgase verursacht wie der Anbau derselben Menge frischen Gemüses. Wer fragt, ob der Konsum von Fleisch empfehlenswert ist oder nicht, kann sich daher nicht nur auf gesundheitliche Argumente zurückziehen, sondern muss auch Klima- und Tierschutzaspekte berücksichtigen.
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(rp)
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