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Sachlichkeit und Ethik

Die Agrarpolitik pocht auf Sachlichkeit im Tierschutz und auf wissenschaftliche Erkenntnisse. Ohne Moral geht es aber nicht.

Von Philipp von Gall, zuerst erschienen unter dem Titel »Das ist Quälerei!« in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 30.12.2012.

Businessmann vor Tafel
Businessmann vor Tafel © alphaspirit – Fotolia

Panisches Gezeter in Legebatterien, verängstigte Blicke im Schweinestall – die Empörung darüber bahnt sich in Medien, Bestsellerlisten und Petitionen immer wieder Bahn. Seit der Verbreitung von industriellen Tierhaltungsformen in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts schwillt die Empörung regelmäßig an, um sich dann wieder zurückzuziehen. Für Agrarpolitiker, Agrarfunktionäre und die Agrarindustrie scheint diese Welle dennoch bedrohlich zu sein. Ihr Argument: Es sind Emotionen am Werk. Und wo Emotionen seien, da seien eine verzerrte Realität und Populismus, Diffamierung und Ideologie nicht weit. Die Lösung heißt also: sachlich bleiben.

Der »Wiesenhof«-Chef Peter Wesjohann forderte dementsprechend vor einiger Zeit weniger Emotion und mehr Sachverstand in der Agrar-Politik. Ihm müsste ein Politiker wie Franz-Josef Holzenkamp gefallen. Der Landwirt sitzt für den Landkreis Cloppenburg-Vechta, einem traditionellen Zentrum für intensive Agrar-Tierhaltung, im Bundestag. Er ist Vorsitzender der Agrar-Arbeitsgruppe der CDU und im Vorstand der Marketinggesellschaft der niedersächsischen Landwirtschaft. Nächstes Jahr will Holzenkamp wieder in den Bundestag gewählt werden und hat sich jüngst in einem Interview mit dem Informationsportal agra-europe zu Wort gemeldet. Er möge keine billige Polemik, hat er da gesagt. Er möge auch keinen vordergründigen Populismus. Die Verwendung des Begriffes »Massentierhaltung« halte er für gefährlich. Solche und ähnliche »Kampfbegriffe« riskierten, die Lebensfähigkeit ganzer Regionen, man denke an Cloppenburg-Vechta, zu gefährden. Stattdessen fordert Holzenkamp »Sachargumente«. Sachlichkeit bedeutet demnach, dass der Umgang mit Tieren in unserem Land von der wissenschaftlichen Klärung abhängen soll, wann von einer gesetzlich geforderten artgemäßen und verhaltensgerechten Tierhaltung gesprochen werden kann. Das setzt freilich voraus, dass es eine zufriedenstellende Tierhaltungsform gibt, die sich wissenschaftlich erschließen lässt.

Seit nunmehr 40 Jahren, mit Einführung des Tierschutzgesetzes im Oktober 1972, geht es um die sogenannte Sachlichkeit. Immerhin hatte ein Urvater des Gesetzes, der Abgeordnete Dietrich Rollman, schon 1966 eine gewisse »Empfindlichkeit in der öffentlichen Reaktion« ausgemacht und mehr Wissenschaft im Tierschutz empfohlen. 1972 wurden dann Biologen, Agrarwissenschaftler und Veterinäre in den Bundestag geladen. Eine neu forcierte Wissenschaft sollte fortan herausfinden, wann man es mit einer verhaltensgerechten und artgemäßen Tierhaltung zu tun habe. In den Worten des für die Reform verantwortlichen Landwirtschaftsministers Josef Ertl sollten anstelle von menschlichen Empfindungen nunmehr »repräsentativ wissenschaftliche Feststellungen« gelten.

Wissenschaftliche Ergebnisse ändern sich

Leider lagen damals aber kaum Ergebnisse dieser Wissenschaft vor. Der Agrarwissenschaftler Siegfried Scholtyssek etwa sah noch »keine Beweise« dafür, dass Hennen in Legebatterien leiden. Keiner konnte da widersprechen. Selbst der Vorsitzende des Deutschen Tierschutzbundes Hubert Pieterek war so verunsichert, dass er 1972 konkrete Forderungen für »verfrüht« hielt.

Und jetzt, wie weit sind die Forscher gekommen? Genau genommen stellen sich jedem, der am Tierschutzgehalt seines Schnitzels oder Frühstückseis interessiert ist, zwei Fragen: Wissen Sachverständige heute, was unter einer artgemäßen und verhaltensgerechten Tierhaltung zu verstehen ist? Und: Wenn ja, wird diese auch praktiziert? Wobei zunächst festzuhalten bleibt, dass alle Tierhaltungspraktiken, die nicht explizit verboten sind, in einem rechtlichen Sinne tierschutzkonform sind. Bedeutet das für unser Schnitzel also »alles okay«? So ließe sich die Botschaft unseres Gesetzes lesen.

Experten helfen auch nicht immer

Es gibt weitere mögliche Antworten. Im Jahr 2006 veröffentlichte ein staatlich gefördertes Experten-Gremium mit mehr als 50 Mitgliedern einen »Nationalen Bewertungsrahmen« für die tierschutzgerechte Haltung. Darin werden allerlei gängige Haltungsformen für die wichtigsten Nutztiere, also auch Rinder, Schweine oder Hühner, beschrieben. In die Bestandsaufnahme floss vor allem veterinärmedizin

ische und Verhaltensforschung ein. In den Worten des Gremiums lieferte es eine »Entscheidungshilfe für die zukünftige Gestaltung der landwirtschaftlichen Nutztierhaltung«. Die Ergebnisse wurden aber bisher nicht in Gänze umgesetzt. Das sollten Politiker und Agrar-Industrie deutlicher machen. Da hilft es wenig, wenn Agrarbehörden beteuern, das Werk der Fachleute sei als ein zwar wertvolles, aber dennoch rechtlich unverbindliches Angebot zu verstehen.

Nun könnte man aber zumindest meinen, alle Lösungen lägen auf dem Tisch und müssten nur zu gegebener Zeit rechtlich greifen. Leider ist das nicht so. Im vergangenen Oktober veranstaltete das von Ilse Aigner (CSU) geleitete Agrar- und Verbraucherministerium eine öffentliche Anhörung zum Tierschutzgesetz. Einigen ausgewählten Sachverständigen wurde eine Liste mit 25 Fragen vorgelegt. Die Themen waren ganz verschieden, es reichte von einer zu hohen Katzenpopulation bis hin zu Vorschlägen für ein Sodomieverbot. Wer darunter eine Frage nach der Umsetzung der artgerechten Tierhaltung suchte, wurde enttäuscht. Stattdessen lernte der Laie etwas über einen weiteren Begriff: den des Tierwohls. Ministerin Aigner möchte nämlich nun – 40 Jahre nach Einführung des Tierschutzgesetzes –

wissen, wie das Tierwohl »wissenschaftlich definiert« ist und welche »messbaren Indikatoren« es gebe, Tierwohl objektiv zu beurteilen. Der Bauernverband antwortete: »Wir verweisen hier auf die entsprechenden wissenschaftlichen Studien.« Ein Professor für Tierzucht mahnte: »Die Haltung von Tieren wird häufig sehr emotional diskutiert.« Ein Pharmakologe warf ein: »Diese Frage ist – wie auch wohl analog die nach dem Wohl des Menschen – nicht einfach zu beantworten.«

Da hat der Mann recht. Das Wohl von Menschen und Tieren mag im alltäglichen und politischen Sprachgebrauch seine Berechtigung haben. Eine exakte Wissenschaft über dieses Wohl kann dagegen als ein zu waghalsiges Unternehmen kritisiert werden. Dachte der Laie also bisher, ein sachlicher Bewertungsrahmen über die artgemäße Tierhaltung würde zwangsläufig das Wohl der Tiere schützen, kann er sich eines Besseren belehren lassen. Insofern muss sich auch Ministerin Aigner für ihre jüngst veröffentlichte Charta für Landwirtschaft und Verbraucherschutz Kritik gefallen lassen. Es ist ja richtig, dass sie darin offen fragt: »Tierschutz, wo stehen wir?« Aber wenn dann die Sachverständigen beschwichtigend verkünden, dass Landwirte ihre Tierhaltung immer aufs Neue an die Anforderungen des Tierschutzes anpassten, verwirrt das. Denn diese Anforderungen können so unterschiedlich sein, dass Landwirte zwangsläufig auch gegen bestimmte Ideen von Tierschutz verstoßen. Zum Beispiel gehen viele dieser Ideen darüber hinaus, nur das Leiden der Tiere zu vermeiden. Das Ziel der Zucht von Nutztieren ist primär die Leistung, die sie erbringen sollen. Ihr Fleisch soll eine bestimmte Fettmaserung haben, oder Kühe einen bestimmten Milchertrag pro Tag liefern. Die Folgen dieser Zucht lassen sich häufig nicht mehr durch eine gute Haltung beheben. Man denkt an die mittlerweile bekannten Fälle: die Truthühner, deren Beine kaum noch ihr eigenes Gewicht halten können, weil die Brust so groß und schwer ist; oder die Schweine, die wegen ihrer Fettleibigkeit schon bei der leisesten Aufregung einen Herzinfarkt bekommen. In deutschen Ställen herrscht zudem Eintönigkeit, wohin das Auge reicht. Und es ist naiv zu behaupten, die Tiere würden nicht das gleiche Gefühl kennen wie wir: öde Langeweile. In diesen Bereichen steht die Forschung erst ganz am Anfang. Vielleicht wäre es daher sogar besser, über artgemäße oder tiergerechte Haltung bis auf Weiteres ganz zu schweigen.

Mann hält ein Auge mit Hand verdeckt
Auf einem Auge blind © Kuzma – iStock

Ohne Ethik und Moral auf einem Auge blind

Was lernen wir daraus? Wissenschaft im Tierschutz hat bestimmt dazu beigetragen, einigen tierschutz-freundlichen Aspekten in der Haltung eine juristische Rechtfertigung zu verschaffen. Die Käfighaltung hat das Verfassungsgericht mithilfe wissenschaftlicher Aussagen verboten. Umgekehrt ist aber die Forderung irreführend, allein der Sachverstand sollte die dringenden Fragen beantworten. Denn bei den Antworten spielen Moral und Ethik auch eine Rolle. Das bedeutet vor allem, dass Laien sich nicht mit dem Vorwand der Sachlichkeit die Mitsprache im Tierschutz verbieten lassen müssen. Der Verweis auf die Emotionen – wie auf Mitleid mit den Tieren – muss nicht der Vernunft widersprechen. Es scheint daher zumindest erklärungsbedürftig, wie Politiker ihre Entscheidungen frei von jeder Emotion treffen wollen. Es wäre überdies fatal, wenn die Rede über Sachlichkeit suggerieren sollte, wir dürften Bilder industrieller Tierhaltung und -schlachtung nicht so kommentieren: Tierquälerei! Was zum Teufel tun sie, was tun wir diesen armen Tieren an!

Solche Ausrufe sind weiterhin wichtig, weil sie bestärken, motivieren oder inspirieren. Sie fließen in wissenschaftliche Studien oder ethische Arbeiten ein. Wenn die Politik Emotionen und eine solche Sprache jedoch ignoriert, ist der Stillstand im Tierschutz programmiert. Deswegen täte der staatliche Tierschutz gut daran, sie ernst zu nehmen, will er sich nicht unbegreiflich machen.

Philipp von Gall ist Doktorand an der agrarwissenschaftlichen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin.

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