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Kolumne: Reformen sind Verrat! Oder nicht?

Ab und an wird in Tierrechtskreisen diskutiert, ob Organisationen wie die Albert Schweitzer Stiftung für unsere Mitwelt an bestimmten Veranstaltungen, Demos etc. teilnehmen dürfen oder nicht. Der Grund für die Debatte: Unsere Stiftung sei »reformistisch«.

Im Leitbild unserer Stiftung steht: »In Ländern wie Deutschland ist es für eine gesunde Ernährung nicht notwendig, Tiere für die Herstellung von Lebensmitteln leiden und sterben zu lassen. Deshalb fördern wir die vegane Ernährungsweise als die derzeit ethisch beste Lösung. Ihre umfassende Verbreitung ist ein langwieriger Prozess, der Zwischenschritte erfordern kann, die wir begrüßen. Dazu zählen auch die Reduktion des Fleischkonsums und die vegetarische Ernährung. Da ein Ende der Nutzung von Tieren als Nahrungsquelle derzeit nicht absehbar ist, wirken wir zudem auf eine weniger qualvolle Züchtung, Haltung und Tötung der Tiere hin.«

Die zuletzt genannten Reformen preisen wir wohlgemerkt nicht mit Slogans wie »Eier von glücklichen Hühnern« an, sondern schreiben zu unserer Käfigfrei-Kampagne, mit der wir jährlich eine zweistellige Zahl an Unternehmen überzeugen, auf Käfigeier zu verzichten: »Von Käfig- auf Boden-, Freiland- oder Biohaltung zu wechseln, ist nur ein erster Schritt. Leider sind die Bedingungen in diesen alternativen Haltungsformen meistens deutlich schlechter als Verbraucher:innen das erwarten. Wir nutzen deshalb die Gespräche mit der Lebensmittelwirtschaft auch, um pflanzliche Ei-Alternativen vorzustellen und diese als beste Lösung zu bewerben.«

Diese Vorgehensweise wird manchmal als Verrat an den Tieren angesehen, da Reformen das System der Tierausbeutung unterstützen würden. Man solle stattdessen die totale Abschaffung der Tierhaltung fordern.

Manchmal stelle ich mir solche Debatten in der Menschenrechtsbewegung vor: Auf der einen Seite stehen Menschenrechtsaktivisten, die dafür sorgen wollen, dass die Haftbedingungen vor der Durchführung der Todesstrafe weniger grausam werden. Sie fordern außerdem ein Folterverbot und setzen sich dafür ein, dass die Todesstrafe seltener angewendet wird. Würde es nicht bizarr wirken, wenn auf der anderen Seite Menschenrechtler:innen stehen würden, die die Aktivisten ausgrenzen, weil sie nicht ausschließlich die komplette Abschaffung der Todesstrafe fordern? Unter einigen Tierrechtler:innen ist es aber Alltag, Aktive auszugrenzen, die sich für weniger schlimme Haltungsbedingungen einsetzen, die Abschaffung von betäubungslos durchgeführten Amputationen fordern und auf einen niedrigeren Tierproduktkonsum hinarbeiten.

Angenommen, es gäbe Beweise dafür, dass es erfolgsversprechender wäre, die Komplettabschaffung der Tiernutzung zu fordern als eine Politik der kleinen Schritte zu verfolgen: Dann könnte ich es verstehen, wenn man alle Reformansätze über einen Kamm scheren und kritisch sehen würde. Bislang konnte ich hinter dieser Sichtweise allerdings nur eine bestimmte Weltanschauung ohne überzeugende Belege erkennen. Die wissenschaftlichen Belege sprechen sehr dafür, dass kleine Schritte äußerst effektiv sein können: Menschen, die erst mal einen Schritt in die richtige Richtung (Fleischreduktion) gegangen sind, tendieren stark dazu, weitere Schritte zu gehen; mehr und bessere vegane Optionen (die vor allem wegen der vielen Flexitarier und nicht unbedingt wegen der noch relativ wenigen Veganer eingeführt werden) führen dazu, dass mehr Menschen vegan essen; richtig umgesetzte Tierschutz-Reformen führen zu weniger Tierleid und höheren Preisen für Tierprodukte; höhere Preise führen zu einem niedrigeren Tierprodukt-Konsum usw.

»Aber man kann doch nicht etwas weniger Sklavenhaltung und ein paar schwache Frauenrechte fordern« – so und ähnlich lauten beliebte Gegenargumente. Hier wird allerdings der Fehler gemacht, zwei hierzulande weitgehend gelöste Probleme durch die Heute-Brille zu betrachten. Heute ist es geradezu selbstverständlich und richtig, für ein komplettes Ende der Sklavenhaltung und für volle Gleichberechtigung unter den Geschlechtern einzutreten. Aber war das schon immer die richtige und einzige Taktik?

Gegen Ende des 18. und zu Anfang des 19. Jahrhunderts setzten sich Abolitionisten in Großbritannien für die Abschaffung des Sklavenhandels ein, nachdem sie sich zuerst nur schwer darauf einigen konnten, nicht von Anfang an die völlige Abschaffung der Sklaverei zu fordern (das wäre damals ein völlig aussichtsloses Unterfangen gewesen). Doch ihre parlamentarischen Anträge zur Abschaffung des Sklavenhandels wurden stets abgelehnt. Erst nachdem sie sich nach großen Verrats-Debatten dazu durchringen konnten, einen Kompromissantrag zu unterstützen, konnten sie den Sklavenhandel entschieden schwächen und danach abschaffen – entgegen aller auch damals schon vorhandenen Befürchtungen, dass Kompromisse nur den Status quo verhärten würden.

Auch in anderen Bewegungen haben Kompromisse wesentliche Rollen gespielt – bei der Stärkung der Rechte von Homosexuellen z. B. sind Kompromisse bis heute zentral. Die Abschaffung von Problemen und Reformen schließen sich also nicht gegenseitig aus. Im Gegenteil: Reformen scheinen die spätere Abschaffung sehr zu begünstigen oder dafür sogar notwendig zu sein. Inwiefern ein Abolitionismus funktionieren kann, der Reformen ausschließt, bleibt offen und weitestgehend unbelegt.

Für die Tierrechtsbewegung lässt sich zusammenfassend sagen, dass der These von »Kompromisse sind Verrat an den Tieren« sowohl viele Beispiele aus der Geschichte als auch wissenschaftliche Erkenntnisse entgegenstehen. Daher hoffe ich, dass Menschen und Organisationen, die – aus guten Gründen – eine Strategie der kleinen Schritte verfolgen, in Zukunft nicht mehr als Aktive zweiter Klasse gesehen werden. Auch würden wir den Tieren einen großen Gefallen tun, wenn wir uns sachlich, konstruktiv und möglichst frei von Ideologien auf die Suche nach den besten Strategien und Taktiken begeben würden.

Nachtrag: Weitere Studien

Drei Studien, die ich während des Verfassens meiner Kolumne noch nicht kannte, bestätigen, dass Reformen nicht zu einem erhöhten Tierproduktkonsum führen. Allein schon die Berichterstattung über Reformen (ohne den zusätzlich positiven Effekt der höheren Preise) kann den Konsum offenbar sogar senken:

In der ersten Studie wurde untersucht, ob die Berichterstattung über eine Gesetzesinitiative in Kalifornien zur Verbesserung der Haltungsbedingung von Legehennen irgendwelche Auswirkungen auf den Konsum von Eiern hatte. Der Konsum verschob sich von Käfig- zu Freiland- und Bio-Eiern, stieg aber insgesamt nicht an.

Die zweite Studie untersuchte, wie sich der Fleischkonsum veränderte, wenn die Medien über Gesetzesreformen, Reformen bei Unternehmen, Recherchen etc. berichteten. Die Berichterstattung führte zu einem leichten Absinken des Konsums. Wenn über nur eine Tierart berichtet wurde, gab es keinen Wechsel zum Konsum von Fleisch anderer Tierarten.

Die dritte Studie ist nicht ganz so aussagekräftig, weil sie nur Konsumabsichten abfragte. Sie ist dennoch interessant: Probanden erhielten per Zufalls-Zuteilung einen von sechs Artikeln. Darin ging es um Legehennen (Reformen bei Unternehmen oder Gesetzesreformen), Schweine (Reformen bei Unternehmen oder Gesetzesreformen) oder Plastiktüten (Reformen bei Unternehmen oder Gesetzesreformen). Die Artikel über Reformen für Legehennen und Schweine führten im Vergleich zu den Plastiktüten-Artikeln dazu, dass die Probanden angaben, ihren Konsum der entsprechenden Tierprodukte reduzieren zu wollen. Wenn wir über solche Reformen berichten, dann ergänzen wir zur Sicherheit noch, dass auch die verbesserten Bedingungen noch problematisch sind (s. o.), was den Effekt der geringeren Konsumabsicht vermutlich noch verstärkt.

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