Sezgin: Artgerecht ist nur die Freiheit
Hilal Sezgin entwirft in ihrem neuen Buch »Artgerecht ist nur die Freiheit« eine »Ethik für Tiere«, die deutlich vor Augen führt, »warum wir umdenken müssen«.
Sezgin, die selbst Philosophie studiert hat, entwickelt in der Auseinandersetzung mit verschiedenen tierethischen Positionen einen ganz eigenen, teilweise auch durch persönliche Erfahrungen geprägten, gut begründeten und schlüssigen Standpunkt in dieser immer wichtiger werdenden Debatte. Dass sie sich bereits seit Jahren auch in ihren Artikeln umfassend mit der Art und Weise, wie in unserer Gesellschaft mit Tieren umgegangen wird, auseinandersetzt, kommt dem Buch zusätzlich zugute. So kann sie mit einer Fülle von Beispielen aufwarten, die die Zusammenhänge verdeutlichen und auch kompliziertere moralische Fragestellungen verständlich machen. Ohnehin handelt es sich bei diesem Buch eben nicht allein um eine Darstellung bisheriger tierethischer Theorien. Die Autorin lässt sich vielmehr nach eigenem Bekunden von diesen »helfen«, eine moralische Sichtweise zu entwickeln, die »unsere menschlichen Ansprüche und die von Tieren verbindet, sprich: die uns ermöglicht, vertretbare Entscheidungen gegenüber allen Beteiligten zu treffen«. Das Ergebnis ist eine sehr gut lesbare Diskussion all der moralischen Problemstellungen, die durch unseren Umgang mit Tieren aufgeworfen werden.
Eine Ethik für Tiere
Hilal Sezgin folgt in ihrem Buch der Frage, die sich heutzutage wohl viele Menschen angesichts der Zustände in der intensiven »Nutz«tierhaltung, aber auch in den Tierversuchslaboren stellen: Dürfen wir das? Dürfen wir Tiere quälen, töten, nutzen? Anhand dieser Fragestellungen, die als Kapitelüberschriften auch die Struktur des Buches bilden, entwickelt sie Schritt für Schritt ihren persönlichen tierethischen Standpunkt, der schließlich in einem Entwurf mündet, wie wir mit Tieren leben können.
In einem einführenden Kapitel wird zunächst umrissen, auf Basis welcher Theorien und Begriffe sie sich in der Folge diesen Themenkomplexen widmen wird. Näher eingegangen wird dabei auf Grundbegriffe wie »Empfindungsfähigkeit«, »Anthropomorphismus«, »Rechte und Pflichten« und »Speziesismus«. Hier findet selbst ein mit dem Thema Tierrechte bereits vertrauter Leser noch neue Argumente und Denkanstöße. Und auch die Autorin berichtet von der Erfahrung, »während der Arbeit an diesem Buch einige langgehegte Überzeugungen abgelegt« und »neue hinzugewonnen« zu haben.
Dürfen wir Tiere quälen, töten, nutzen?
So nähert sich Sezgin im folgenden Kapitel unter der Überschrift »Dürfen wir Tiere quälen?« dann auch dem Thema Tierversuche zunächst mit der Annahme eines »milden Speziesismus«, der dem Menschen in dem Fall den Vorzug gibt, »wenn gleichermaßen vitale Interessen bei Mensch und Tier auf dem Spiel stehen«. Nach eingehender Beschäftigung mit der Thematik und Abwägung dieser Interessen kommt sie jedoch in der Folge angesichts des Ausmaßes der Leiden und Einschränkungen der Versuchstiere und ihrer Masse zu dem Schluss, dass all dies selbst unter Heranziehung eines »milden Speziesismus« moralisch nicht zu rechtfertigen ist.
Im Zentrum des anschließenden Kapitels, das sich mit der Frage, ob wir Tiere töten dürfen, auseinander setzt, stehen Begriffe wie der »Wert des Lebens« und der »Lebenswille« der Tiere. Unabhängig von dem Argument, mit dem sich bereits viele Tierethiker:innen auseinandergesetzt haben, dass das Tier an sich angeblich keinen echten Begriff einer Zukunft habe und somit auch nicht darüber, dass ihm diese durch den Akt des Tötens genommen werde, sieht Sezgin das Leben als »einen Wert an sich, ein essentielles Gut für das jeweilige empfindsame Wesen«. Ihm dieses zu nehmen, sei »immer ein moralisches Unrecht«, für das sich letztlich auch »kaum Argumente auf der Basis von Komfort, Traditionen, Eigeninteressen denken« ließen.
Neben der Tötungsfrage stellt sich zugleich die Frage, ob wir Tiere nutzen dürfen. Daran, dass in ihren Augen »die Tiere, die uns heute Fleisch, Eier, Milch, Wolle und Leder ‘liefern’, ein erbärmliches Leben« führen, lässt die Autorin schon zu Beginn keinen Zweifel. Die Art, wie diese gehalten werden, erfülle nicht einmal das Minimum einer so gerne postulierten »artgerechten« Haltung. Der Maßstab für das »Wohl des Tieres« sollte vielmehr »das (vorgestellte) freie Tier« mit all seiner Handlungs- und Wahlfreiheit sowie die Tatsache, »inwiefern unsere Haltung sein Leben und dessen einzelne Elemente und Funktionen beeinträchtigt«, sein. Ebenso weit entfernt von der gegenwärtigen Realität (auch der Realität der Tierwohl-Initiativen der Fleischindustrie) wie dieses Ideal ist dann auch Sezgins hypothetische Frage, ob »eine Nutztierhaltung vorstellbar ist, bei der die Tiere nur »etwas« beeinträchtigt wären, aber nur so, dass ihr Wohl nicht unzulässig eingeschränkt würde«. Da Unfreiheit jedoch immer Leiden schaffe und die Berücksichtigung aller Bedürfnisse des Tieres kaum möglich sei, muss sie auch diese Frage verneinen.
Eine neue Form des Zusammenlebens mit Tieren
Die Autorin beschränkt sich allerdings nicht allein darauf zu benennen, was in ihren Augen aus moralischer Sicht im Hinblick auf unsere Behandlung der Tiere nicht akzeptabel ist. Im letzten Kapital schließlich entwirft sie die mögliche Zukunft einer »neuen Form des Zusammenlebens mit Tieren«. Sie fordert einen »Perspektivwechsel«, durch den wir das Tier »nicht von vornherein als »Nutztier« ansehen und auf dieser Grundlage überlegen, wie wir ihm sein derzeit unzumutbares Los ein wenig erträglicher machen können«, sondern ihm »a priori das Recht auf den Vollzug seines eigenen Lebens« zugestehen. Es ist ihre »Vision von einer Menschheit, die sich diese Erde mit anderen Tieren teilen kann und will«.
Fazit: Artgerecht ist nur die Freiheit
Der große Gewinn dieses Buchs für die Leser:innen ist, dass sie hier einerseits einen fundierten, umfassenden Einblick in die historische wie auch die aktuelle tierethische Debatte erhalten, zum anderen aber aufgrund der Fülle praktischer Beispiele auch angeregt und in die Lage versetzt werden, einen eigenen Standpunkt zu entwickeln und nach diesem zu handeln. Indem Hilal Sezgin sich nicht allein auf die theoretische Darstellung der moralischen Fragestellungen beschränkt, sondern ganz konkrete Antworten liefert und die persönlichen Konsequenzen für ihr Leben verdeutlicht, praktiziert und vermittelt sie eine angewandte Ethik, die heutzutage angesichts der dargestellten Zustände immer wichtiger wird.
Das Buch »Artgerecht ist nur die Freiheit. Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen« (301 Seiten) ist im C. H. Beck Verlag erschienen und kann u. a. hier bestellt werden.