Madeline, ein gerettetes Masthuhn
Dies ist die Geschichte von Madeline, einem »Masthuhn«, das Glück hatte.
Ich weiß nicht genau, wie Madeline gelebt hat, bevor sie zu mir kam. Auch darüber, wo sie geboren wurde oder wie sie in die Situation kam, in der man sie gefunden hat, kann ich lediglich spekulieren. Ich weiß nur, dass sie von einem Tierschutzbeauftragten gerettet wurde, der einen Hinweis darauf bekommen hatte, dass eine Frau vierzig Hühner in einem für nur zehn Tiere ausgelegten Stall hielt. Sie hatten kein Futter oder Wasser und manche von ihnen waren verletzt. Von dem Beauftragten mit diesen Zuständen konfrontiert, überließ ihm die Frau die kranken und verletzten Tiere und einen Großteil der restlichen Hühner. Die kranken Hennen wurden sofort in die Behandlung eines Tierarztes gegeben, über den ich auf Madeline traf. Es wurden Pflegestellen gesucht und so holte ich Madeline nur wenige Tage nach ihrer Rettung von der Krankenstation ab. Ich wollte mich um sie kümmern, bis ihre Wunden geheilt waren und sie in ein langfristiges Zuhause umziehen konnte.
An dem Tag, an dem Madeline - in einem sehr angeschlagenen und dem Tode nahen Zustand - mit zu mir nach Hause kam, war ich mir sicher, dass sie es nicht schaffen würde. Eine schmerzende Infektion bedingte, dass sie weder stehen noch laufen konnte. Außerstande, ihr Futter zu erreichen, hatte sie sehr viel an Gewicht verloren und zudem hatten einige der anderen Hühner an ihr herumgepickt und damit eine sich entzündende Wunde am Kopf verursacht. Durch ihre Unterernährung und die Verletzungen war sie so geschwächt, dass sie ihren Kopf immer nur für einen kurzen Moment heben konnte. Ihr Schicksal war so gut wie besiegelt. Ich begann meine Entscheidung, sie retten zu wollen, zu überdenken. Würde die Behandlung ihr Leiden vielleicht nur verlängern?
Ich nahm sie mit zu mir nach Hause, baute ihr ein gemütliches Nest in einer Hundekiste und machte mich daran, mich intensiv um diesen tapferen Vogel zu kümmern. Obwohl sie so krank war, strahlte Madeline eine solche Entschlossenheit und Kraft aus, dass ich ihren Lebenswillen förmlich spüren konnte. Dann schließlich, nachdem ich sie über viele Tage versorgt hatte, nach langem Warten und Hoffen, und nachdem ich mich schon gefragt hatte, ob die winzigen Schritte zur Besserung tatsächlich echt oder doch nur Wunschdenken waren, richtete sich Madeline eines Tages mit schwachen Beinen auf. Für einen kurzen Moment stand sie aufrecht, fiel dann aber wieder zu Boden. Es war nicht viel, aber es bestätigte mir, dass ich das Richtige getan hatte.
Schritt für Schritt mühte Madeline sich in den kommenden Wochen durch alle Schmerzen und ihre Erschöpfung, bis sie wieder stehen und laufen konnte. Oft kam sie und schmiegte sich an mich, während ich arbeitete. Sie legte ihren Kopf auf mein Bein und ich kraulte die zarte Haut unter ihren Flügeln, bis sie voller Behagen die Augen schloss. Dass sie mir so nah sein wollte, überraschte mich: Die wenigen Erfahrungen, die sie bisher mir Menschen gemacht hatte, waren allesamt geprägt von Gleichgültigkeit und Grausamkeit. Sie hatte keinen Grund, mir zu vertrauen. Aber sie tat es, und ich freute mich sehr über ihren Wunsch, in meiner Nähe zu sein.
Nachdem sie zu ihrer alten Kraft zurückgefunden hatte, stolzierte sie umher, als gehöre ihr nun die ganze Welt. Sie lernte meine Hunde und Katzen kennen und fing an, die Welt draußen zu erkunden. Nie machte sie den Eindruck, an sich selbst zu zweifeln, und sie verhielt sich so, als wisse sie genau, wer sie war. Jeden Tag genoss sie mit einem beneidenswerten Vertrauen in sich selbst und in ihre Fähigkeiten.
Aber so gern ich sie auch bei mir zu Hause hatte, musste ich mir doch schließlich eingestehen, dass Madeline langsam gesund genug war, um in ein endgültiges neues Zuhause umzuziehen. Sie brauchte ein sicheres Gelände im Freien, wo sie scharren und sich putzen konnte. Und sie brauchte die Gesellschaft von anderen Hühnern. Ein Freund, in dessen großem Garten bereits eine kleine Schar Hennen lebte, nahm sie bei sich auf.
Madeline fand sich schnell in der Gruppe zurecht und unter all den anderen Hennen blühte sie regelrecht auf. Am Anfang begnügte sie sich zwar noch damit, aus ihrer Schüssel zu fressen und dann den Großteil des Tages im Schatten zu dösen, doch wiesen sie die anderen Hennen schon bald auf die besten Plätze zum Scharren nach Käfern hin und brachten ihr bei, wie angenehm es sein kann, sich längere Zeit auf frischem, grünen Gras aufzuhalten.
Inmitten all des Grüns und der vielen Wildblumen sah sie bildschön aus: glänzend weißes Federkleid, strahlend roter Kamm und Kehllappen, ein knallrotes Gesicht, gelber Schnabel und tiefgelbe Beine und Zehen. Und sie war groß. Richtig groß. Fast dreimal so schwer wie eine normale Henne. Madeline war eine Weiße Cornish-Kreuzung: eine spezielle Rasse, die in der Geflügelindustrie auch »Broiler« genannt wird. Sie war darauf gezüchtet, sehr schnell enorm an Gewicht zuzunehmen, um im Alter von nur 49 Tagen noch als Baby geschlachtet zu werden. Aufgrund ihrer unnatürlichen Züchtung bekommen Masthühner oft Probleme mit Bändern und Gelenken und leiden dazu unter einem schwachen Herzen. Trotz ihrer Größe war Madeline aber überraschend beweglich und konnte den Hügel im Garten ebenso schnell hinunterstürmen wie die anderen Hennen, wenn es galt, einen Leckerbissen zu erhaschen.
Madeline hatte eine ebenso große wie liebenswürdige Persönlichkeit. Sie strahlte eine unglaubliche Gelassenheit aus, die auf die ganze Gruppe eine beruhigende Wirkung hatte. Madeline war außerordentlich tapfer. Wer auch immer den Ausdruck »feiges Huhn« erfunden hatte, hatte sich dabei unglaublich geirrt. Auch wenn das Wegrennen für Hühner meist die vernünftigste Art der Selbstverteidigung ist, können sie auch extrem durchsetzungsfähig sein. Vor allem wenn es darum geht, ihre Kinder zu verteidigen. Madeline übernahm in der Gruppe die Rolle der Beschützerin und erwies sich als äußerst mutig. Wann immer Habichte über dem Garten ihre Kreise zogen, stieß eine der anderen Hennen einen Warnruf aus und alle rannten davon und suchten Schutz -meist war dieser Schutz Madeline. Während die anderen Mädels sich dichtgedrängt an sie drückten, baute sie sich komplett auf, reckte den Kopf himmelwärts und blieb herausfordernd stehen. Wenn fremde Katzen sich bei den Hennen einschlichen, stellte sie sich ihnen gegenüber und hackte sie, wenn nötig, in die Flucht. Wenn es darum ging, die Hühnerschar zu beschützen, war sie furchtlos.
Madeline verlebte einige unbekümmerte Monate mit ihren Freundinnen, bis ihre genetischen Anlagen sie eines Tages einholten. Eines Morgens tapste sie aus ihrem Hühnerhaus, ließ sich direkt fallen und war unfähig, wieder aufzustehen. Ihr roter Kamm und Kehllappen wurden erst hellblau und dann dunkellila. Madelines Herz schlug nicht mehr stark genug, um ausreichend sauerstoffreiches Blut durch ihren Körper zu pumpen. Wir eilten mit ihr zum Tierarzt, aber man konnte nichts mehr tun, um ihr die Beschwerden zu nehmen oder ihr überlastetes Herz zu heilen. Schwer atmend lag sie in der Sauerstoffbox und schied langsam von uns. Als wir die herzzerreißende Entscheidung trafen, ihr beim Verlassen dieser Welt zu helfen, starb sie anmutig und voller Würde. Sie war gerade erst sieben Monate alt.
Ich habe viel von Madeline gelernt. Ich habe gelernt, dass keine Hoffnung vergebens ist. Hoffnung ist es gewesen, die sie am ersten Tag aus der Krankenstation zu mir nach Hause brachte und Hoffnung war es, die ihre Genesung vorangetrieben hatte. Ich wurde auch wieder an etwas erinnert, was ich zwar schon wusste, was die meisten aber oftmals vergessen: Tiere, selbst die, die unbeachtet bleiben, haben ein Leben voller unterschiedlicher Stimmungen und Gefühle. Sie gehen tiefe Freundschaften und intensive Beziehungen mit allen Arten von Lebewesen ein, nicht nur mit ihrer eigenen Art. Sie führen ein eigenes Leben und sie genießen es in vollen Zügen. Und sie haben einen Wert, einfach deshalb, weil es sie gibt.
Diese und weitere Geschichten von Tieren, die es aus quälerischer Haltung auf Lebenshöfe geschafft haben, finden Sie in dem Buch Ninety-Five: Meeting America's Farmed Animals in Stories and Photographs, das es bislang nur auf Englisch gibt.