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Buchauszug: »Der übersehene Hebel«

Im Mai erschien der Sammelband »Verantwortbare Landwirtschaft statt Qualzucht und Qualhaltung«. Herausgeber Dr. Walter Neussel geht darin mithilfe zahlreicher Stimmen aus Politik, Recht, Tierschutz und Wissenschaft der Frage nach, »was warum schiefläuft und wie wir es besser machen können«.

Das Buch versammelt, nach einem Vorwort von Peter Singer, Texte zu den Problemen der Massentierhaltung und wie sie zu lösen sind. Unter anderen finden sich Beiträge von Dr. Eisenhart von Loeper, Renate Künast und Dr. Edmund Haferbeck. Herausgeber Dr. Walter Neussel, Initiator des Peter-Singer-Preises für Strategien zur Tierleidminderung, trug ebenfalls seine Gedanken in mehreren Texten bei. Der Sammelband war sein Herzensprojekt, dessen Veröffentlichung er wenige Tage vor seinem Tod noch erlebte.

Mahi Klosterhalfen, Präsident der Albert Schweitzer Stiftung, beschreibt in seinem Kapitel, warum Veränderungen in der Landwirtschaft besser über die Unternehmen der Lebensmittelindustrie als über Politik und Verbraucher:innen erreicht werden können. Lesen Sie hier einen Auszug.

»Der übersehene Hebel: Unternehmen aus der Lebensmittelwirtschaft können die Massentierhaltung beenden«

[...] Lassen Sie uns zunächst einen Blick auf die – leider rar gesäten – Verbesserungen der letzten zwei Jahrzehnte für die sogenannten Nutztiere werfen. Das Verbot der Legebatterien drängt sich hier sofort auf und wirkt zunächst wie ein politischer Erfolg. Bei näherem Hinsehen wird jedoch deutlich, dass der Auslöser ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts war, das der Rechtsanwalt und Gründer der Albert Schweitzer Stiftung für unsere Mitwelt, Wolfgang Schindler, für die Legehennen erkämpfte. Die häufig als Legehennenurteil bezeichnete Entscheidung des höchsten deutschen Gerichts nahm die Bundesregierung in die Pflicht, ein Verbot dieser Haltungsform zu erlassen. Dass Bundeslandwirtschaftsministerin a. D. und Mitautorin dieses Buchs, Renate Künast  (Grüne), dieses Verbot trotz des klaren Auftrags des Bundesverfassungsgerichts gegen Kräfte aus der CDU und CSU erringen musste, soll ihre persönliche Leistung nicht schmälern. Der Sachverhalt zeigt jedoch, dass selbst sicher geglaubte Leistungen der Politik auf wackeligen Füßen stehen und oft hart erkämpft werden müssen.

Einige Jahre später folgte das Verbot der Kleingruppen-Käfige für Legehennen. Diese neuen Käfige waren eine Erfindung der Agrarindustrie, um das Verbot der Legebatterien und der ausgestalteten Käfige nach EU-Recht in Deutschland zu umgehen. Auch der Ausstieg aus der Kleingruppenhaltung ist bei näherem Hinsehen kein politischer Erfolg, denn in einem weiteren Urteil erklärte das Bundesverfassungsgericht die Art der Einführung der Kleingruppenkäfige als verfassungswidrig, da Tierschutzorganisationen dabei nicht ergebnisoffen angehört wurden, was jedoch vorgeschrieben war.

Die damalige Bundeslandwirtschaftsministerin Ilse Aigner (CSU) stand dadurch vor der Wahl, die Kleingruppen-Käfige im Rahmen eines sauberen Ablaufs erneut zu legalisieren oder diese Haltungsform mit Übergangsfristen auslaufen zu lassen. Sie entschied sich für letzteres. Also doch ein politischer Fortschritt? Nicht wirklich, denn die Ministerin a. D. begründete das Verbot u. a. damit, dass Kleingruppen-Käfige keine wirtschaftliche Relevanz mehr hatten.

Wie kam es dazu? Indem die Albert Schweitzer Stiftung für unsere Mitwelt mit dem Verhandlungsmandat vieler anderer Tierschutz- und Tierrechtsorganisationen ein Unternehmen nach dem anderen überzeugte, keine Käfigeier mehr zu verkaufen oder zu verwenden. Es muss ca. 2006 gewesen sein, als ich – damals noch als Student – in den Untiefen des Internets eine ältere Meldung fand, dass Aldi Nord sich entschlossen hatte, keine Käfigeier mehr zu verkaufen. Damals waren Tierschutzerfolge extrem rar gesät und ich wunderte mich, so wenig über diesen wichtigen Schritt zu finden und begann, an der Echtheit der Meldung zu zweifeln. Da ich im Aldi-Süd-Gebiet lebte, entschied ich mich, beim Kundenservice von Aldi Nord anzufragen und erhielt die Antwort, dass man in der Tat schon seit einigen Jahren nicht mehr mit Käfigeiern handele. Später fand ich heraus, dass auch dieser Erfolg auf Wolfgang Schindler zurückging. Ihn lernte ich einige Zeit später persönlich kennen und er lud mich bald darauf in den Vorstand der Albert Schweitzer Stiftung für unsere Mitwelt ein. Mein erstes großes Projekt dort war, mit dem Verhandlungsmandat vieler anderer Tierschutzorganisationen den restlichen Lebensmitteleinzelhandel anzuschreiben und vorzuschlagen, dem Beispiel von Aldi Nord zu folgen. Das gelang erstaunlich gut und wenige Monate später hatten alle Einzelhändler erklärt, keine Käfigeier mehr zu verkaufen. Wir kontaktierten daraufhin (mit ähnlichen Ergebnissen) die Hersteller von Eiernudeln und arbeiteten eine Branche nach der anderen ab – mit durchschlagendem Erfolg.

So sank der Anteil der Käfighaltung in Deutschland noch vor jedem politischen Verbot von ca. 90 Prozent im Jahr 2000 auf 38 Prozent im Jahr 2009. In 2010 folgte dann das Verbot der Legebatterien. Die Kleingruppenkäfige darf die Eier-Industrie noch bis zum Jahr 2025 nutzen. Ihr Marktanteil liegt wegen der erfolgreichen Gespräche mit und vereinzelten Kampagnen gegen Unternehmen aus der Lebensmittelwirtschaft allerdings nur noch bei 7 Prozent.

[...]

Wie man sieht, hat die Politik kaum etwas zu den Tierschutzerfolgen der letzten zwei Jahrzehnte beigetragen. Zeigen aber nicht Beispiele wie Renate Künast und Christian Mayer, dass nur die richtigen Politiker:innen an die Macht kommen müssen, um den Tierschutz voranzubringen? Aus meiner Sicht ist diese Frage mit einem klaren Jein zu beantworten: Die Chancen für politische Fortschritte steigen dann sicherlich, doch mussten wir schon vielfach beobachten, dass progressive Politiker:innen und Parteien in Regierungsverantwortung viel weniger für die Tiere bewegen (können) als ihre Worte in Oppositionszeiten erhoffen lassen. Das liegt vermutlich auch daran, dass die Agrarlobby eine der stärksten und am besten vernetzten Interessenvertretungen in Deutschland und Europa hat. Angesichts dessen wundere ich mich immer wieder darüber, dass die Tierschutzbewegung verhältnismäßig viele Ressourcen in politische Arbeit und fast keine Ressourcen in Verhandlungen mit und Kampagnen gegen Unternehmen steckt. Meines Wissens ist die Albert Schweitzer Stiftung für unsere Mitwelt die einzige Organisation in Deutschland, die dauerhaft einen erheblichen Anteil ihres Budgets in letzteres investiert. Das wirkt auf mich so, als würde die Tierschutzbewegung im Kampf gegen Achilles laufend auf dessen Kopf einschlagen, anstatt auf die Ferse zu zielen.

Die Arbeit mit und gegen Unternehmen ist die Achillesferse der Tierindustrie, weil sie hier – im Gegensatz zur Politik – relativ wenig Einfluss hat. Während sie in der Politik fast perfekt die Strippen zieht und etliche Mitglieder in Landtagen, im Bundestag sowie in Europaparlament und EU-Kommission stellt, ist sie für Supermarktketten, Catering-Unternehmen und Lebensmittelhersteller im Grunde nur ein Lieferant. Diese Unternehmen können relativ frei definieren, was für Produkte sie von ihren Lieferanten beziehen wollen. So können sie auch Tierschutzstandards definieren. Wenn die Lieferanten im Geschäft bleiben wollen, dann bleibt ihnen nichts anderes übrig als die Standards zu erfüllen. [...]

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