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Jubiläum: Schweitzers Ehrfurcht vor dem Leben

Albert Schweitzer pflückt Obst

Heute jährt sich zum 140. Mal der Geburtstag Albert Schweitzers – und das in einem sehr bemerkenswerten Jahr. So steht am 4. September bereits der 50. Todestag des noch heute weltbekannten Philosophen, Theologen, Arztes und Musikers an. Hinzu kommt ein ganz besonderes Jubiläum: Im September des Jahres 1915 – d. h. vor nunmehr 100 Jahren – gelang es Albert Schweitzer den für seine Philosophie zentralen, noch heute weithin bekannten Begriff zu finden: die »Ehrfurcht vor dem Leben«.

Denkwürdige Daten genug also, um zum diesjährigen Geburtstag Schweitzers die Entstehung und grundlegenden Aspekte seiner Philosophie noch einmal näher in den Blick zu nehmen und nach ihrer Aktualität – insbesondere für den Tierschutz – zu fragen.

Entstehung der Philosophie Schweitzers

Mit den beiden Werken »Verfall und Wiederaufbau der Kultur« sowie »Kultur und Ethik« erschienen im Jahr 1923 die ersten beiden Teile des philosophischen Hauptwerks Albert Schweitzers. In ihnen handelte er eine Thematik ab, die ihn bereits während seiner frühen Universitätsjahre umtrieben hatte: ein von ihm diagnostizierter Niedergang der menschlichen Kultur. Gekennzeichnet sah ihn Schweitzer durch einen zunehmenden gesellschaftlichen Verlust an ethischen Idealen, als dessen konkrete Folge u. a. den Ausbruch des ersten Weltkriegs im Jahr 1914. Um dem Niedergang etwas entgegenzusetzen, entschloss sich Schweitzer sowohl dazu, »über den geistigen Zustand der Zeit, in der ich lebte, kritisch zu berichten«, als auch zu einer eigenen Beantwortung »der fundamentalen Frage […], wie eine Dauer habende, tiefere und lebendigere ethische Kultur aufkommen könne.« (1)

Der Gedanke der Ehrfurcht vor dem Leben

Eine entscheidende Note erfuhr Schweitzers kulturphilosophische Beschäftigung im September 1915 während einer mehrtägigen Flussfahrt in Afrika, wo er seit 1913 gemeinsam mit seiner Frau Helene am Aufbau eines Tropenhospitals in Lambarene (Gabun) arbeitete:

»Ich saß auf einem der Schleppkähne. Ich hatte mir vorgenommen, mich auf dieser Fahrt ganz in das Problem des Aufkommens einer Kultur, die größere ethische Tiefe und Energie besäße als die unsere, versunken zu bleiben. […] Am Abend des dritten Tages […] mussten wir einer Insel in dem über einen Kilometer breiten Fluss entlang fahren. Auf einer Sandbank, zur linken, wanderten vier Nilpferde mit ihren Jungen in derselben Richtung wie wir. Da kam ich, in meiner großen Müdigkeit und Verzagtheit plötzlich auf das Wort ‚Ehrfurcht vor dem Leben‘, das ich, so viel ich weiß, nie gehört und nie gelesen hatte.« (2)

Zwar gilt es mittlerweile als umstritten, inwieweit Schweitzer den Begriff der Ehrfurcht vor dem Leben zu diesem Zeitpunkt tatsächlich weder gehört noch gelesen hatte. Denn sowohl in seinem eigenen Schaffen (einmalig, in einer Vorlesungsmitschrift eines ehemaligen Studenten Schweitzers aus dem Jahr 1912) als aber auch insbesondere im Werk des zeitgenössischen Pazifisten und Tierrechtlers Magnus Schwantje lässt sich dieser Begriff bereits für frühere Zeitpunkte nachweisen. (3) Als unbestritten kann jedoch die große Bedeutung gelten, die dieser Begriff fortan für Schweitzers Werk und auch Leben einnahm, sowie die große Wirkung, die davon ausging.

Bedeutung der Ehrfurcht vor dem Leben

Mit der »Ehrfurcht vor dem Leben« gelangte Schweitzer zu der Überzeugung, auf einen Begriff gestoßen zu sein, der »die Lösung des Problems, mit dem ich mich abquälte, in sich trug. Es ging mir auf, dass die Ethik, die nur mit unserem Verhältnis zu den andern Menschen zu tun hat, unvollständig ist und darum nicht die völlige Energie besitzen kann. Solches vermag nur die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben. Durch sie kommen wir dazu, nicht nur mit Menschen, sondern mit aller in unserem Bereich befindlichen Kreatur in Beziehung zu stehen und mit ihrem Schicksal beschäftigt zu sein, um zu vermeiden, sie zu schädigen, und entschlossen zu sein, ihnen in ihrer Not beizustehen, soweit wir es vermögen.« (4)

Damit war der Kern eines ethischen Ansatzes gefunden, dem Schweitzer nicht nur die nötige Energie beimaß, eine dauerhaft ethische Kultur zu befördern. Er ermöglichte ihm auch, eine konsequent biozentrische Ethik zu entwickeln, die jedem Lebewesen, ganz gleich welcher Art, per se einen eigenständigen Wert beimisst und keinerlei Wertunterschiede zwischen ihnen akzeptiert. Für Schweitzer stand zudem fest: »Ist er [der Mensch] von der Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben berührt, so schädigt und vernichtet er Leben nur aus Notwendigkeit, der er nicht entrinnen kann, niemals aus Gedankenlosigkeit.« (5)

Seine ausformulierten Gedanken in die Tat umsetzend, bewies Schweitzer bis zu seinem Tod, dass seine Ethik nicht etwa nur ein bloßes theoretisch-akademisches Konzept, sondern auch handlungspraktisch umsetzbar ist. Dies vor allem mit seinem Hospital in Lambarene, wo er sich rastlos und beispielhaft für jegliches Leben heilend einsetzte: für Menschen, Tiere, ja sogar auch für Pflanzen. Insbesondere die starke Einheit aus Wort und Tat bei Schweitzer inspirierte schließlich unzählige Menschen weltweit zu einem ethischen Einsatz für alles Leben. (6)

Ist Schweitzers Ethik noch aktuell?

Ist Schweitzers Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben heute noch von Relevanz? Um diese Frage zu beantworten, kann sich ohne zu zögern den Geleitworten zum hundertjährigen Jubiläum der Ehrfurchtsethik Schweitzers angeschlossen werden. Diesen Worten nach »führen wir heute einen Dritten Weltkrieg gegen die Natur (Dalai Lama) und zerstören unsere Lebensgrundlagen. Die Regierungen der Weltgemeinschaft begegnen der drohenden Klimakatastrophe mit viel hehren Worten und zu wenig wirksamen Taten. Fundamentalismus und Terrorismus greifen um sich, religiöser Fanatismus und nationalistische Ideologien versuchen sich mit immer brutaleren Mitteln durchzusetzen. Für die meisten Regierenden und Großunternehmen sind kurzfristige Wirtschafts- und Profitinteressen nach wie vor bestimmend.« Für diese Zeitdiagnose ließen sich allein schon für das vergangene sowie das gerade erst angebrochene Jahr genügend Beispiele anführen.

Ergänzt werden sollten die hier zitierten Geleitworte noch mit einer expliziten Nennung vor allem der rund 60 Milliarden Landtiere, die alljährlich für die weltweite Produktion von Fleisch, Milch, Käse, Eiern und weiteren tierlichen Produkten gezüchtet, unter überwiegend qualvollen Bedingungen gehalten und getötet werden. Genannt werden müssen zudem auch die mindestens 1 Billion (1.000.000.000.000) gefangenen Meeres- sowie die rund 64 Millionen Tonnen in Aquakulturen gemästeten Fische, Krebs- und Weichtiere. Es sind diese Tiere, die zum überwiegend größten Teil kurzfristigen Wirtschafts- und Profitinteressen sowie einem fragwürdig großen Hunger nach tierlichen Produkten zum Opfer fallen. Eine Opferrealität, die in ihrer massenhaften Ausprägung zudem noch auch für den Menschen gesundheitlich bedenklich ist und nachweisbar schädliche Auswirkungen auf die Umwelt, das Klima sowie die Welternährungssituation hat. Wie kann dieser Realität mit Schweitzers Ehrfurchtsethik konkret begegnet werden?

Schweitzers Ethik ist zukunftsweisend

Eine im letzten Jahr veröffentlichte, sehr lesenswerte Studie zu »Albert Schweitzers Ethik als Kulturphilosophie« kommt zu dem Schluss, dass sich die Ethik Schweitzers auch heute noch vor allem dafür eignet, Sachverhalte in Einzelfalluntersuchungen moralisch zu bewerten: »[…] wenn dargestellt ist, wer die Betroffenen sind, wie sehr sie leiden, ob eine direkte Notwendigkeit vorliegt und wenn mögliche Alternativen erörtert wurden, ist es möglich, eine Entscheidung für oder gegen ein bestimmtes Vorgehen zu treffen.« (7)

Was nun konkret die Produktion und den Konsum von tierlichen Produkten betrifft, so dürfte spätestens in den vergangenen Jahren klar geworden sein, dass die vornehmlich Betroffenen – die Tiere – in den allermeisten Fällen von zahlreichen Leiden und Schmerzen betroffen sind. Da zudem zumindest schon in den westlichen und westlich geprägten Industrienationen ein vielfältiges und in jeglicher Hinsicht ausreichendes Angebot an pflanzlichen Alternativen zur Verfügung steht, eine Konsumumstellung leicht realisiert werden kann und darüber hinaus noch eine potente Forschungslandschaft zur Entwicklung von Innovationen im Nahrungsmittelsektor existiert, dürfte nur allzu deutlich werden, dass für die Inkaufnahme des Leides und Schmerzes der Tiere keinerlei Notwendigkeit besteht.

Mit der Schweitzer’schen Ehrfurchtsethik kann die gegenwärtige Tierproduktion als inakzeptabel bewertet werden. Mithilfe des Ansatzes, neben Notwendigkeiten auch nach Alternativen zu fragen, weist diese Ethik außerdem in eine Zukunft, die in der Produktion und im Konsum zunehmend pflanzlicher – d. h. vegetarisch oder im besten Fall vegan – zu gestalten ist. Albert Schweitzer selbst übrigens, dessen Ethik auch den Grundsatz enthielt, zu keinem Zeitpunkt seines Lebens der Gedankenlosigkeit zu verfallen, wurde in seinen letzten Lebensjahren auch selbst noch zum Vegetarier. Damit ist nicht nur sein Werk noch heute aktuell, auch sein Leben kann weiterhin inspirierend sein – lassen auch Sie sich inspirieren.

Quellen:

(1) Albert Schweitzer: »Die Entstehung der Lehre der Ehrfurcht vor dem Leben und ihre Bedeutung für unsere Kultur«, in: H. W. Bähr (Hg.): Die Ehrfurcht vor dem Leben. Grundtexte aus 5 Jahrzehnten, 6. Auflage (1991), S. 16 f.

(2) S. o. Punkt (1), S. 20.

(3) Sabine Pohl: Albert Schweitzers Ethik als Kulturphilosophie (2014), S. 155 ff. Bei Schwantje ist der Begriff erstmals für das Jahr 1908 nachweisbar. In der Verwendung des Begriffs bei Schweitzer und Schwantje sieht Sabine Pohl sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede.

(4) S. o. Punkt (2).

(5) S. o. Punkt (1), S. 158.

(6) So fiel etwa der Startschuss der modernen Umweltschutzbewegung im Jahr 1962 mit »Der stumme Frühling« von Rachel Carson, die ihr Buch Albert Schweitzer widmete. Im Jahr 1957 wurde in Deutschland das erste Albert-Schweitzer-Kinderdorf gegründet. In vielen Ländern wie Deutschland und Amerika bis hin nach Japan wurde Albert Schweitzer als Patron für Tierschutzarbeit ausgewählt (vgl. z. B. aus dem Jahr 1982 Ann Cottrell Free: Animals, Nature and Albert Schweitzer).

(7) S. o. Punkt (3), S. 304.

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