Justice, ein gerettetes Bio-Rind
Dies ist die Geschichte von Justice, einem Ochsen, aus dem einmal Bio-Rindfleisch werden sollte.
Justice betrachtet uns in aller Seelenruhe, während wir uns langsam dem Weideplatz nähern, auf dem er es sich an diesem Nachmittag gemütlich gemacht hat. Genau genommen betrachtet er uns nicht einfach nur, er sieht uns an: Seine Augen treffen unsere und halten den Blick. Er hat eine eindeutige, klar erkennbare Intelligenz in seinen Augen und einen Blick, als würde er uns etwas sagen wollen.
Michele, sein Betreuer, erzählt uns seine Geschichte:
Justice, ein junger Ochse, der im Alter von anderthalb Jahren dazu bestimmt war, zu Bio-Schnitzel verarbeitet zu werden, war gerade auf dem Weg zum Schlachter, als er aus dem Transportfahrzeug ausbrach und losrannte. Was ihm dann das Leben rettete, war eine Gruppe von Wildhütern, die mit einem Betäubungsgewehr auf ihn schossen und die damit - aufgrund der seitdem in seinem Kreislauf befindlichen Medikamente – sein »Fleisch« für den menschlichen Verzehr unbrauchbar machten. Andernfalls wäre er wieder eingefangen, verladen und ins Schlachthaus gebracht worden.
Als Justice erstmals auf dem Lebenshof ankam, war er sehr verängstigt, denn das einzige andere Mal, bei dem er in einem Anhänger gewesen war, war auf seiner Fahrt ins Schlachthaus – und so wehrte er sich mit vollem Körpereinsatz. Indem er im Anhänger wild um sich schlug, um herauszukommen, brach er sich schließlich auch sein linkes Horn ab. Sherman, ein anderer Stier, der zu diesem Zeitpunkt auf dem Hof lebte, ging auf ihn zu und begann, ihn durch den Zaun hindurch abzulecken und zu beruhigen. Justice hat sich das gemerkt und er selbst macht es seither bei jedem Neuankömmling.
Immer wenn Neulinge auf den Hof kommen, weiß Justice, ob sie wirklich verängstigt sind, und das vollkommen unabhängig davon, welcher Tierart sie sind – ob Ziege, Schaf, Truthahn oder was auch immer. So wusste er es z. B. auch beim Schaf Rowdy, der furchtbare Angst hatte, als er hierher kam. Er hatte so sehr im Anhänger gezittert, dass das ganze Ding wackelte, und er hatte sich schier die Seele aus dem Leib geschrien, bis Justice den Hügel hinauf gestürmt und ihm zu Hilfe kam.
Wir bringen die Neuankömmlinge immer erst in den Hühnerhof, da er einerseits sicher verschlossen ist, andererseits aber trotzdem einen 360-Grad-Blick auf das Geschehen im Lebenshof ermöglicht. So ließen wir auch Rowdy in den Hof, wo er mit großem Geschrei umher rannte. Dann kam Justice, der sich einfach nur auf der anderen Seite direkt neben den Zaun stellte. Als auch die Ziegen allesamt herüber kamen, um den Neuen in Augenschein zu nehmen, wusste Justice, dass dies Rowdy nervös machte, und so drehte er sich um und ging ein paar Schritte auf die Ziegen zu, ganz so, als wollte er sagen: »Leute, tretet doch mal ein bisschen zurück – ihr könnt gerne zuschauen, aber ihr seid gerade etwas zu viel für ihn« – und schon entfernten sich die Ziegen.
Nachdem Justice zum Zaun zurückgekehrt war, kam Rowdy zu ihm, obwohl er noch nie im Leben Rinder gesehen hatte. Er stand direkt neben Justice, auf der anderen Seite des Zauns, und hörte auf zu schreien. Seite an Seite stehend, verbrachten sie so die ganze Nacht. Ich brachte ihnen Futter und Wasser, doch sie haben es nicht einmal berührt, stattdessen blieb Justice die ganze Nacht hindurch am Zaun stehen. Er blieb am Zaun bei Rowdy, dem es am nächsten Tag wieder gut ging.
Dasselbe machte Justice für die Lamas, als sie hierher kamen. Er ist ja so ein Guter. Wenn die Neulinge zu uns kommen, geht Justice einfach zu ihnen hin und beruhigt sie und ich bin mir sicher, dass er das tut, weil Sherman es damals für ihn getan hat.
Selbst wenn die kranken Tiere hierher kommen, die hier nichts mehr weiter tun können, als zu sterben - allerdings im Frieden zu sterben, im größtmöglichen Frieden -, ja selbst wenn diese Tiere auch niemals an den Punkt gelangen, an dem sie uns Menschen vertrauen, so nehmen sie doch die Schwingungen der anderen Tiere auf. Sie nehmen den Frieden auf, und gerade Justice ist einer von denen, der ihnen diesen Frieden vermittelt.
Das Beste, was wir in solchen Situationen tun können, ist uns zurückhalten. Sie wissen schon damit umzugehen. Wir sind bloß Menschen. Ich lerne jeden Tag etwas Neues von ihnen und wenn mir das klar wird, frage ich mich: »Warum hab‘ ich das nicht gewusst? Warum kommt mir erst jetzt diese Erleuchtung? Sie wissen so viel mehr als wir.«
Vielleicht ist ja das, was wir in Justices Augen sehen, Mitgefühl.
— Diane Leigh
Diese und weitere Geschichten von Tieren, die es auf einen Lebenshof in den USA geschafft haben, finden Sie in dem Buch Ninety-Five: Meeting America's Farmed Animals in Stories and Photographs, das es bislang nur auf Englisch gibt.